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Die Zeit der Kanye-Witze ist vorbei

Foto: AP

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"Kanye West beleidigt Wiz Khalifa – der Grund ist eine wundervolle Verwechslung", "Kanye West bettelt bei Mark Zuckerberg um Geld", "Schon wieder Petition gegen Kanye West" – Kanye Wests offenbar unkontrollierbares Ego hat viele Medien, und noch mehr das Social Web, zuverlässig mit durchaus unterhaltsamen Schlagzeilen und Material für schmissige Einzeiler versorgt. Auch uns. Sogar so sehr, dass wir für einige Wochen unter dem Tag "#dailykanye" eine tägliche Rubrik für neue Ausfälle des Rappers eingeführt hatten.

Nun wurde West am vergangenen Sonntag aber zur psychischen Untersuchung eingeliefert, einige berichten dabei von Handschellen. Er hatte zuvor auf zwei Konzerten, die er anschließend kommentarlos abbrach, wirre Wutreden über das Radio oder Google gehalten, sich nebenher als Trump-Anhänger bezeichnet und Theorien über Killer verbreitet, die sein Kollege und (ehemaliger) Freund Jay-Z befehligen soll.

Kanye ist offenbar krank. Trotzdem lässt sich in vielen Meldungen auch weiterhin eine gewisse Häme herauslesen, der Nachrichtensender n-tv spricht vom "Britney-Spears-Moment des Kanye West", er habe sich diesmal "offenbar selbst ausgeknockt". Auch unter unserer Meldung am Montag fanden sich User-Kommentare wie "zu viel gepulvert, schätze ich", oder "vielleicht Sauerstoffmangel unter den Fleischbergen seiner Frau erlitten." Dabei sollte klar sein: Die Zeit der launigen Kanye-Witze ist vorbei.

Natürlich machen seine Wutreden gegen vermeintlich unverdiente Award-Preisträgerinnen, die Rap-Konkurrenz oder wen auch immer Kanye West nicht unbedingt zu einem sympathischeren Menschen. An Stelle des "Haha, er dreht durch"-Gedanken sollte aber trotzdem nun ein "Oh nein, er dreht durch"-Denken treten.

Warum? Erstens, weil eine psychische Erkrankung, wie sie hier höchstwahrscheinlich vorliegt, wirklich niemandem einen Anlass für Scherze liefern sollte.

Und zweitens: Neben aller Egomanie haben wir es hier immer noch mit einem der größten Künstler unserer Zeit zu tun, der eben keine belanglose Konsens-Kunst fabriziert und sich darauf einen runterholt, sondern den Pop des 21. Jahrhunderts um viele einzigartige, handgemachte Meisterwerke bereichert hat.

Solche Werke zu erschaffen, ist kein einfacher Prozess, sondern zermürbende, kreative Arbeit. Nicht zuletzt die ständigen Änderungen am aktuellen Album "The Life of Pablo" beweisen das. Kanye West ist eben nicht nur der aufmerksamkeitsgeile Über-Promi, er ist keine Kardashian, die nicht viel Talent besitzen, außer das zur Selbstdarstellung. Kanye West ist ein waschechtes Musik- und Zeitgeist-Genie. Den Hang zu Eskalation und Wahnsinn könnte man da fast schon unter "Berufsrisiko" einsortieren.

Dass jemand, der mit einem so ungeheuren Perfektionsmus an sein Schaffen herangeht, immer auch an der Schwelle zum Psychiatrie-Aufenthalt entlangläuft, ist ein zwar altes Künstler-Klischee – im Fall West kann man allerdings feststellen: Es stimmt eben manchmal, leider. Gute Besserung, Kanye.

qli

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