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Warum ich eine Frau frage, bevor ich sie küsse

Illustration: Katharina Bitzl

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Männer sind in Bezug auf Sex und Liebe immer wieder mit Klischees konfrontiert: Sie finden viele One-Night-Stands immer gut, können nicht Schluss machen, fragen vor dem Küssen nicht. Unser Kolumnist Jakob Tieleck findet viele dieser Vorstellungen überholt und wird ab sofort darüber schreiben, wie es wirklich ist.

Beim heftiger werdenden Flirt gibt es für mich einen kritischen Zeitpunkt. Er beginnt dort, wo sich erahnen lässt, dass mein Date und ich nach den Gedanken erste zarte Körperlichkeiten austauschen könnten. Und egal wie direkt, offen und ehrlich das Gespräch bisher war: Bei diesen Schritten werde ich vorsichtig, denn ich verabscheue Übergriffigkeit. Ich bin schon genervt, wenn jemand in der Bahn zu laut redet, da möchte ich bei einem Eintritt in intime Sphären erst recht keine Grenzen überschreiten.

Das nimmt manchmal absurde Züge an, wie neulich bei Merle und mir: 

Seit einer halben Stunde reden wir über Abschlepp-Schuppen, Sex im Hotelzimmer und ob Männer ihr eigenes Sperma probieren sollten. Eigentlich genug heiße Themen, um die Straße anzuzünden, auf der Merle und ich gerade entlangschlendern. Und jetzt streift ihre Hand schon wieder beim Gestikulieren meinen Oberarm und bleibt ein paar Zehntelsekunden in meiner Armbeuge. Das gefällt mir sehr, weil es wie ein kleiner elektrischer Schlag bis in meine Körpermitte zuckt. Und doch weckt das den inneren Analytiker, der erst mal fragt: War das lange genug, um es sicher als nicht-versehentlich zu bewerten?

Und was sagen die anderen Zeichen? Meine Hand liegt gerade an Merles Schulter, aber sie lehnt sich weder zu mir noch in meinen Arm. Und ja, sie kichert kurz, als meine Finger zaghaft über ihr Schulterblatt rutschen. Aber ist das vielleicht nur ein Ausdruck der Überforderung? Mein hormoneller Zustand erreicht unterdessen eine neue Dimension, weil mir gerade auffällt, wie unfassbar hot das ist, wenn sich Merles Nase beim Kichern so kräuselt. Und da ich im Zustand dieser Hirnverklebung nicht besonders urteilsfähig bin, ziehe ich meinen Arm wieder zurück und werde zum Schulbuchbeispiel der Verhaltensbiologen. Der Konflikt: Knutschmotivation gegen Flucht vor möglicher Zurückweisung. Die Übersprungshandlung: Kopfkratzen, Mundverziehen, langgezogen „Äääähhh!“ sagen.

Und während Merle keck den Kopf in den Nacken legt und mich prüfend – oder ist es herausfordernd? – anblickt, stelle ich endlich die Frage: „Ich würde Dich gerne küssen, darf ich?“ Ihr Lachen darauf ist heftig und laut. Sie zwickt mich in die Seite und sagt: „Du Raffnix! Deute doch mal die Signale richtig. Wenn Du fragst, ruiniert das die Stimmung!“ Dann zieht sie mich vom Bordstein einen Schritt auf die Straße und wir tänzeln weiter schlendernd umeinander. Ohne zu knutschen.

Ich mag diese Art der Reaktion nicht besonders, nehme sie aber mittlerweile gelassen hin. Weil ich mich leider daran gewöhnt habe.

Natürlich war ich guter Dinge gewesen. Und als Beobachter unserer Turteleien hätte ich wahrscheinlich irgendwann rufen wollen: „Küsst Euch endlich, ihr Trottel! Diesen Eiertanz kann ja keiner mitansehen!“ Aber es geht mir ums Prinzip. Und das nennt sich Zustimmungskonzept: Es gibt genau ein eindeutiges Signal und das ist ein klares Ja auf eine klar definierte Äußerung meiner Absichten. Ob sie dann nun hingerissen „Ohja“ flötet, kurz nickt oder mich einfach von sich aus küsst, ist mir egal. Aber ich will sie auf keinen Fall überrumpeln.

Der Vorwurf, die Stimmung ruiniert zu haben, ist wie eine Strafe dafür, dass ich das Richtige tue

Die Alternative ist nämlich ziemlich beschissen: Die Auffassung, dass ein Mann sich den Kuss eben nehmen muss. Und die Frau lässt es mit sich machen oder muss sich wehren. Diese Geisteshaltung ist eine Schwundstufe toxischer Maskulinität und führt zu elenden Komplikationen. Und zu Männern und Frauen, die meinen, Grenzüberschreitungen zu forcieren oder zu dulden gehöre zur Anbahnung von Intimitäten dazu. Das muss verdammt noch mal anders werden! Selbst bei Freunden, deren Wohnungsschlüssel ich habe, klingele ich vorher an der Tür – und stehe nicht einfach plötzlich in ihrem Flur. Warum also sollte ich ausgerechnet beim Austausch von Körperflüssigkeiten anders agieren?

Außerdem gibt es auch Fälle wie Nina: Sie war eine entfernte Bekannte und die anfänglichen Berührungen im Club steigerten sich so weit, dass sie ihren heißgetanzten Körper rücklings an mich presste. Und je mehr sie den Ständer in meiner Hose spürte, desto heftiger rieb sie ihren Hintern an meinem Becken. Also flüsterte ich ihr ins Ohr: „Wenn Du mich weiter so anmachst, musst Du damit rechnen, dass ich Dich in den nächsten 30 Sekunden küsse. Mitten auf den Mund.“

Und siehe da, sie suchte sich sofort einen anderen Typen, den sie geil machen konnte. Und mir wurde klar: Auch wenn sich eine Frau an meinem Schwanz reibt, heißt das noch lange nicht, dass sie Bock auf meine Zunge hat. Natürlich empfand ich ihr Verhalten als nicht besonders fein. Aber solch erratische Menschen streiche ich einfach umgehend von der Knutschliste, weswegen Nina bei mir mit der gleichen Nummer ein paar Wochen später abblitzte.

 

Denn ich frage zwar vor allem aus Prinzip. Ein ganz bisschen aber auch aus erzieherischen Gründen. Der Vorwurf, die Stimmung ruiniert zu haben, wie ihn mir Merle neulich machte, kommt mir wie eine kleine und ungerechte Strafe vor. Dafür, dass ich das Richtige tue. Und wer dabei kein „Ja“ signalisieren kann, muss darauf verzichten, von mir geküsst zu werden. Vorerst zumindest.

 

Mein erster, gescheiterter Kuss-Versuch war vielleicht ein bisschen hölzern. Aber Merles Klugheit, Offenheit und ihre sexuelle Erfahrung machten mich auch hypernervös. Zum Glück konnte ich das aber auch artikulieren. Und meine Erklärungen, warum ich grundsätzlich frage, verstand sie auch. Denn sie forderte mich auf, es doch bitte noch mal zu probieren. Und weil sie mich so gespielt streng ansah, witzelte ich: „Bitte um Erlaubnis für Zungenverkeilung.“ Woraufhin sie mich endlich küsste.

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