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„Global gesehen leidet ein Großteil der Menschen unter dem Kapitalismus“

Foto: steffne / photocase

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Sara Huber, 23, hat vor zwei Jahren angefangen, sich in einem Lesekreis näher mit der Theorie von Karl Marx auseinanderzusetzen. Nach knapp zwei Jahren ist sie eine von drei Personen, die durchgehalten haben und sich nach wie vor zum Kapital-Lesen treffen. Vergangenes Jahr organisierte die Grazer Studentin anlässlich „150 Jahre Kapital“ eine Marx-Konferenz mit. Gerade schreibt sie ihre Masterarbeit in Sozialpädagogik und beschäftigt sich dafür noch mal besonders intensiv mit marxistisch-feministischen Ansätzen. Warum es sich lohnen kann, Marx zu lesen, erzählt sie im Interview.   

jetzt: Warum sollte man sich den oft schwer verständlichen Marx antun?

Sara Huber: Wenn ich so an mein ganz junges Ich in der Oberstufe denke, das noch gar nicht wusste, was es mit dem Leben machen soll, dann erinnere ich mich an diese Überforderung. Ich stand wahnsinnig unter Druck, mir möglichst viele Kompetenzen anzueignen, um „was aus mir zu machen“. Dass dieses Gefühl mit einem viel größeren Zusammenhang zu tun hat, konnte ich mir erst mit der Marx-Lektüre vorstellen.

Inwiefern?

Sich mit Marx zu beschäftigen ist im ersten Moment frustrierend, weil einem klar wird, in was für einem System man lebt, in dem permanenter Leistungsdruck vorherrscht. Andererseits erklärt er so vieles, das auch hilft, diesen Leistungsdruck zu demaskieren. Zum Beispiel, dass so viele Menschen in diesem System scheitern und denken, sie sind selbst an allem schuld. Im Kapitalismus wird das Prinzip „Selbstverantwortung“ ganz subtil genutzt, um Menschen gefügig zu machen für bestimmte Dinge wie Schule oder Arbeit. Sich bewusst zu werden, dass ganz viele Menschen die gleichen Probleme haben, kann eine entlastende Erkenntnis sein. Dann merkt man nämlich, dass es ein Gesamtproblem im Kapitalismus gibt: die grundsätzliche soziale und ökonomische Ungleichheit, auf der er aufgebaut ist. 

Was hat Marx mit uns konkret zu tun?

Marx zeigt, wie die Dinge auch in kleinsten Formen miteinander zusammenhängen. Zum Beispiel, wie es dazu kommt, dass wir bestimmten Dingen einen bestimmten Wert beimessen. Wenn man sich diese Frage selbst stellt, muss man sich bei vielen Sachen fragen, warum man sie eigentlich macht. Was mache ich wirklich für mich selber und aus welchen Dingen will ich direkt oder indirekt Wert schöpfen? Ein Beispiel dafür sind Freundschaften, die im Arbeitskontext entstehen. Oft werden sie überlagert von der Aussicht, dass diese Freundschaften irgendwann auch Vorteile haben und der eigenen Karriere nützen. Diese Ökonomisierung sozialer Beziehungen kann man den Menschen nicht zum Vorwurf machen, sie passiert häufig ganz nebenbei und unbewusst. Viele Unternehmen sind so strukturiert, dass Arbeit Spaß machen soll und die Angestellten sich mit dem Unternehmen identifizieren. Amazon bietet seinen Angestellten Fitness- und Entspannungs-Kurse an, die sie nach der Arbeit dort noch absolvieren können. Andere machen „home office“ und haben praktisch nie Feierabend. Die ganze Start-up-Szene basiert auf der Vermischung von Arbeit und Freizeit, Freundschaft und Kollegium.

Das muss ja nicht unbedingt schlecht sein. Könnte es sein, dass die Leute mit diesem System zufriedener sind, als du glaubst?

Ich glaub schon, dass es in breiten Teilen der Gesellschaft eine Unzufriedenheit gibt, aber dass diese Stimmen wenig Gehör bekommen. Diese Unzufriedenheit äußert sich in Westeuropa durch schwindendes Vertrauen in die Politik, durch einen umfassenden Rechtsruck der Gesellschaft und sinkende Wahlbeteiligung. Aber auch durch Burnouts, Überforderung und Depressionen. Dadurch, dass in einem neoliberalen System jede und jeder auf sich allein gestellt ist, gibt es für dieses Gefühl des Abgehängt-Seins kein kollektives Bewusstsein der Massen und keinen Platz, diese Sorgen zu artikulieren.

Sara Huber

Sara Huber, Mitgründerin eines Marx-Lesekreises.

Foto: privat

Kommunismus hat im deutschsprachigen Raum eher einen schlechten Ruf, viele denken da auch  an Stasi und DDR.

Diesen Punkt muss ich in Diskussionen immer wieder erklären. Kommunismus ist eigentlich eine philosophische Richtung und wurde von verschiedenen Regimen umgedeutet: Welche historischen und gesellschaftlichen Ausmaße das in verschiedenen Teilen der Welt angenommen hat, hat nicht mehr viel mit der Idee des Kommunismus zu tun. Im Grundgedanken geht es darum, Menschen aus einer unterdrückten Position zu bringen und eine emanzipatorische Perspektive zu entwickeln. Diese Perspektive muss die Wünsche, die Menschen im Leben außerhalb kapitalistischer Verhältnisse haben, miteinschließen.

Kannst du dem Kapitalismus auch etwas Positives abgewinnen?

Nein. Kapitalismus ist ein Gesamtsystem, das auf ökonomischer und sozialen Ungleichheit beruht. Wenn wir uns anschauen, wo unser Handy herkommt, dann steht dieses fortschrittliche Gerät in direkter Verbindung zur Ausbeutung anderer. Global gesehen leidet ein Großteil der Menschen unter diesem System und so lange das so ist, kann ich darin nichts Positives sehen. 

Was macht man jetzt mit Marx Theorie in der Praxis?

Ich persönlich achte darauf, nicht jeden Bereich meines Lebens verwertbar zu machen. Zum Beispiel, indem ich mich klassischen Karriereentwürfen widersetze und meine Studienzeit ausdehne. Oder, indem ich kollektiv lebe und arbeite und mich mit anderen zusammenschließe, die genauso unter dieser Vereinzelung leiden wie ich.

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