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Der Sommer ihres Lebens

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»Es war ein Fluch«, sagt Felix heute noch, 16 Jahre später. Sein Körper spannt sich, während er sich erinnert, er weiß, wie alles geendet hat. Am Anfang aber, in diesem Sommer damals, wurde ein Traum wahr: Hinter hohen, verwilderten Hecken fanden wir einen Schatz. Felix und ich waren beste Freunde, doch nach diesem Sommer verloren wir uns aus den Augen. Es war, als gerieten wir in einen Katalysator, der alles beschleunigte und auf ein kaum erträgliches Maß steigerte. Sven war damals auch dabei, von ihm haben wir nie wieder etwas gehört. Ein Dorf dreißig Kilometer vor München, im Mai 1994: Doppelhaushälften und Reihenhäuser zugezogener Akademikerfamilien, ein Zwiebelkirchturm aus dem 15. Jahrhundert und ein paar Bauernhöfe. Die nächste S-Bahn-Station ist fünf Kilometer entfernt. Wir liegen auf der blauen Hochsprungmatte des Sportplatzes. Skateboards, Eastpak-Rucksäcke mit Bierflaschen, Zigaretten. Wir sind Verdammte der Vorstädte, das echte Leben, denken wir, läuft in der Stadt, unerreichbar. Wir müssen warten: auf den Führerschein, das Abitur und die Stadt. Die anderen – wir nennen sie »die Bauern« – spielen Fußball und sprechen Dialekt. Wir glauben, besser als sie zu sein, weil wir mehr vom Leben wollen. Sven raucht, auf dem Rücken liegend, und starrt in den Himmel, gelangweilt von allem. Felix öffnet mit dem Feuerzeug eine Flasche Bier. Der Kronkorken landet im hohen Bogen im Gras, so vergehen die Tage. Felix ist gerade vom Gymnasium geflogen, er schläft jeden Tag bis drei. Er und Sven haben schon einmal gekifft. Ich traue mich nicht. Vor einem Jahr ist die Platte Nuthin but a G Thang von Dr. Dre erschienen und kurz darauf Illmatic von Nas – düstere Musik, die um Drogen und Gewalt kreist. Wir wollen Gangster sein, malen uns das Leben in New York und South Central L. A. aus, wir träumen Halbstarkenträume von Macht, Geld, Drogen und Abenteuern, wir sprechen viel über Sex, haben aber gerade einmal ein Mädchen geküsst, wir faseln von Schlägereien und würden uns doch nie prügeln. Im Winter haben wir uns zum ersten Mal Baggy Pants gekauft, weite Hosen, die unsere Lässigkeit demonstrieren sollen. In unserem Dorf nahe München halten wir uns damit für Avantgarde. Meine Mutter lacht mich aus. Ein Fünftklässler, ich kenne ihn vom Schulbus, erzählt von einem verlassenen Haus, von drei alten Hexen, die dort gelebt haben, und dass dort überall Geld herumliege. Wir müssen etwas tun gegen die Langeweile. Sven und ich suchen das Haus. Am Ende der Straße wuchern Gartenhecken, hier muss es sein. Wir springen über das Gartentor. Das Gras reicht uns bis an die Knie. Die Haustür an der Rückseite steht offen, an ihr hängt ein Zettel: »Was hier passiert ist, kommt nicht mehr oft vor auf der Welt. Zwei sind schon verreckt, und die Dritte kommt auch bald dran.« Mir wird unwohl, aber noch haben wir nichts verbrochen. Wir sind nicht die ersten Jugendlichen, die in ein unbewohntes Haus einsteigen. Es riecht modrig, die Wände sind unverputzt. An manchen Stellen ist kein Boden verlegt. Eine Wäscheleine hängt durch den größten Raum, eine Schürze baumelt daran. Das ganze Erdgeschoss ist ein Rohbau. Wir gehen die Treppe nach oben. Die Stufen knarzen. Dann stehen wir vor einer verschlossenen Tür, ein Schlüssel steckt. Wir drehen ihn herum und betreten den Raum: verstaubte Teppiche, vergilbte Vorhänge, bezogene Betten. Überall Müll und Kleidung. Die Luft ist alt, im Schlafzimmer öffnen wir ein Fenster. Auf dem Küchentisch liegt eine offene Schachtel mit Keksen. Ein paar fehlen, die übrigen sind mit dickem Schimmel überzogen. Daneben: fünf blaue Hundertmarkscheine, wie sie von 1962 bis 1990 gedruckt wurden. Sie liegen einfach da, als warteten sie seit Jahren darauf, mitgenommen zu werden. Sven will schreien, stößt aber nur einen spitzen Laut aus. Wir umarmen uns. Vor Freude küsse ich Sven auf die Backe. Wir verlassen das Haus leise und schnell, raus ins Freie, wo die Luft frisch ist. Wir sprechen kein Wort, radeln zurück zur Hochsprungmatte, glücklich wie Schatzräuber. Am Abend essen wir jeder zwei Pizzen im Sportlerheim, bestellen fünf Spezi und füttern den Flipper zwei Stunden lang. Wir bezahlen mit einem der Hundertmarkscheine. Der Wirt nimmt das Geld, ohne es komisch anzusehen. Unser Sommer beginnt. Weiterlesen auf sz-magazin.de

Text: philipp-mattheis - Foto: Julian Baumann

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