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Der Tod meiner Mutter

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Text: Georg Diez Die Wand war gelb, so wie jede Krankenhauswand gelb ist, an die man sich erinnern will. Ich stand vor ihrer Tür und wartete. Es war früher Abend, rechts den Gang entlang war das Schwesternzimmer, von dort kam ein leises Murmeln und von weiter hinten der Klang eines Fernsehers. Links den Gang entlang war es leer. Es roch nach nichts. Aber es musste nach etwas riechen. Es musste etwas geben, an das ich mich erinnern konnte. Die Tür öffnete sich, und die Schwester kam heraus. Sie war nicht jung und nicht alt, oder sie war jünger, als ich dachte. Ich schaute sie an, und ihr Gesicht war schon verschwunden. Ich wartete kurz, dann ging ich hinein und zog erst die Tür zu, bevor ich mich zu meiner Mutter umsah. Sie saß halb und lag halb, sie hatte die Augen geschlossen und die Decke bis unters Kinn gezogen, sie trug ein rotes Nachthemd, das konnte ich sehen, weil ihr rechter Arm unter der Bettdecke herausgerutscht war. Sie war schon seit zwei Tagen hier. »Du hast es mir doch versprochen«, hatte sie gesagt, als ich sie das erste Mal besuchte, kurz nachdem sie eingeliefert worden war, traurig und mit müden Augen, sie sah auf einmal ganz anders aus. »Du hast es mir doch versprochen«, den Vorwurf, der in diesem Satz lag, konnte ich verkraften, ich konnte ihn verstehen. Es war trotzdem bitter. Ihr Atem ging schwer, aber nicht mehr ganz so schwer wie am Tag zuvor. Es war ihr Hausarzt Doktor Koschine gewesen, der festgestellt hatte, dass sie Wasser in der Lunge hatte. Er war ein kleiner Mann mit Augen, die einen trösten konnten, obwohl sie traurig schauten. Er war einer der wenigen Menschen, denen meine Mutter bis zuletzt vertraute. Er wollte alles dafür tun, dass sie zu Hause sterben konnte. Auch deshalb mochte sie ihn. Als er mich dann anrief, war ich tatsächlich überrascht. Ich hatte gedacht, dass wir es ohne Krankenhaus schaffen würden, auch wenn das vielleicht naiv gewesen war; und ich wusste nicht, was ich meiner Mutter sagen sollte. »Ich habe schon mit ihr gesprochen«, sagte er, »sie ist einverstanden.«»Sie ist einverstanden?« »Sie leidet, wissen Sie. Es strengt sie sehr an zu atmen.« »Und was heißt das – punktieren?« »Ich würde das lieber im Krankenhaus machen, das ist sicherer. Die Flüssigkeit wird dort auch gleich untersucht.« Ich schaute auf die Autos, die durch das dunkle Berlin fuhren, so weit weg, so nah. »Und wann?« »Gleich morgen.« Ich legte auf, ging in die Küche, machte den Kühlschrank auf, machte ihn wieder zu und rief Elfi an, die älteste Freundin meiner Mutter. Sie würde da sein, wenn der Krankentransport komme, sagte sie, sie würde mit ihr ins Krankenhaus fahren, sie würde aber nicht warten können, bis ich da war. Ich nahm den Flug am frühen Nachmittag, und als ich im Krankenhaus ankam, war es schon dunkel. Es war ein Gefühl zwischen Aufgeregtheit und Ruhe, zwischen Ergebenheit, Erschrecken und Erleichterung. Die Krankheit hatte sich selbstständig gemacht. Der Punkt war gekommen, an dem es kein Ausweichen mehr gab. Eine Weile geht das recht gut, sehr lange sogar. Der Körper ist mehr eine Ahnung, der fremde sowieso, und so bleibt das, was die Krankheit mit ihm macht, ein Rätsel. Dieses Rätsel bleibt intakt, muss intakt bleiben, es wäre zu schmerzhaft, es zu ergründen. Meine Mutter hatte ihr ganzes Leben über versucht, stark zu sein, vor allem nach der Scheidung. Stark sein, unabhängig sein, frei sein. Sie hatte das geübt, hatte es trainiert. Ich würde sagen, dass das eine Fiktion ist, eine Selbsttäuschung, dass die Stärke, so wie sie das verstand, etwas Heroisches hatte, fast etwas Pathetisches, und wie alles Heroische machte sie das in letzter Konsequenz einsam. In ihrem Sterben spiegelte sich noch einmal vieles von dem, was ihr Leben bestimmt hatte, dieses Leben, das manchmal wirkte wie eine Versuchsanordnung, sie war eben die Tochter eines Ingenieurs. Sie hatte sich alles so genau überlegt. Sie hatte vorausgedacht, ihr Kopf war schneller gewesen als ihr Körper, und als ihr der Körper entglitt, blieb ihr immerhin der Rest dieses Plans. Auch ich hatte einen Platz in diesem Plan, aber wir waren uns beide nicht ganz sicher, wie dieser Platz aussehen sollte. Das lag zum einen an mir, zum anderen an ihr, vor allem aber daran, dass sie lange brauchte, bis sie das Wort »Mutter« ohne Spott oder sogar Verachtung aussprechen konnte. Sie wollte auf keinen Fall eine Mutter sein wie all die anderen und vor allem nicht wie ihre eigene, jene Martha Hövelmann, die uns manchmal Butterkuchen mit der Post schickte, das war schon ein Zeichen von Zuneigung. Die ich vier oder fünf Mal gesehen habe und die in meinem Leben keine Rolle spielte und an deren Gesicht ich mich nicht erinnern kann, nur an ihre Brille. Sie hatte den vier Geschwistern meiner Mutter immer gesagt, dass die eine Klasse übersprungen und ihr Abitur mit einer Eins gemacht hatte, was gar nicht stimmte, aber es wäre halt schön gewesen, und außerdem konnte sie so die anderen Geschwister etwas verunsichern und antreiben, das war ihr Wesen. Diese selbstbezogene Verlogenheit bleibt als Bild von meiner Großmutter, die selbst bestimmte Freiheit war das Ideal meiner Mutter, dazwischen tat sich eine Leere auf, die wir nur teilweise gemeinsam füllten. Als sie stark war, merkte ich das nicht; als sie schwach wurde, gelang es uns besser. Wir beide verstanden irgendwann, dass es eine ganz andere Art von Stärke erfordert, schwach zu sein. Meine Mutter musste erst lernen, schwach zu sein. Lies weiter bei den Kollegen vom SZ-Magazin.

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