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Ein indisches Märchen

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Von Dirk Peitz Normalerweise zieht Shafiq Syed um halb sieben morgens die Haustür hinter sich zu. Seine Frau ist dann schon wach, doch die drei kleinen Kinder schlafen noch, auf dem Bett, das sich die ganze Familie teilt. Ein kleiner Raum für fünf, dazu Küche und Abstellkammer, zehn Quadratmeter insgesamt, das ist Shafiqs Zuhause. Die Gegend ist für indische Verhältnisse eine Kleinbürgersiedlung: keine Wellblechhütten, kaum Müll auf den Wegen aus roter Erde, der Strom fließt verlässlich, Wasser gibt es draußen aus dem Gartenschlauch. Die längste Zeit seines Lebens hat Shafiq von alldem nur geträumt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Der Star aus Slumdog Millionaire Wäre das ein normaler Morgen, dann würde sich Shafiq, ein kleiner, rundlicher Mann von 34, jetzt in seine Motor-Rikscha setzen, die halbe Stunde in die Stadt fahren und bis in den späten Abend kreuz und quer weiterfahren, bis genug Geld zusammen wäre für einen Tag, 200 Rupien vielleicht, drei Euro. Shafiq ist Rikschafahrer, er kutschiert Menschen durch Bangalore, die indische IT-Metropole. Shafiq selbst hat keinen Computer, wofür auch, er kann ja nicht schreiben. Doch der 23. Februar 2009 ist kein normaler Tag. Um halb sieben morgens schaltet Shafiq den Fernseher an und weckt die Kinder. Am anderen Ende der Welt beginnt in Hollywood die Oscar-Verleihung. Shafiq fährt heute später los. Um kurz vor zehn indischer Zeit treten Rubina Ali und Azhar Ismail ins Rampenlicht. Auch der letzte und wichtigste Oscar, der für den besten Film, ist an Slumdog Millionär gegangen. Regisseur Danny Boyle und Produzent Christian Colson rufen ihre Schauspieler auf die Bühne, die neunjährige Rubina wischt nur kurz durchs Bild, der zehnjährige Azhar aber stellt sich gleich neben das Mikrofon, in das Colson jetzt seine Dankesworte spricht, die Kamera hat Azhar voll drauf. Acht Oscars für einen Film aus dem Armenhaus von Mumbai, Wahnsinn. Rubina und Azhar sind die Einzigen aus Slumdog Millionär, die wirklich wissen, wie man im Slum lebt, sie hausen in einem, Garib Nagar, Bandra East, Mumbai. Das Märchen dieser Oscar-Nacht, so scheint es, wird für Rubina und Azhar nun im wirklichen Leben wahr. Nur wie ihr Märchen ausgeht, weiß noch niemand. In Bangalore sieht Shafiq den kleinen Azhar im Fernsehen und sieht sich selbst. Er schaltet den Fernseher aus und fährt arbeiten. Hoffentlich, denkt Shafiq, ergeht es ihnen nicht wie mir, hoffentlich vergisst man sie nicht. So wie man mich vergessen hat.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Shafig Syed heute als Rikschafahrer Als sein Film 1988 in Cannes die Goldene Kamera für den besten Debütfilm gewann, hatte ihn seine Regisseurin Mira Nair nicht mitgenommen nach Südfrankreich. Auch nach Hollywood nicht, wo Salaam Bombay! 1989 für den Oscar nominiert war als bester ausländischer Film. Dabei war Shafiq nicht irgendwer, er war der Hauptdarsteller. Das Straßenkind Shafiq, gerade 13, ein dürres Häufchen Elend mit unendlich sehnsüchtigem Blick, spielte das Straßenkind Krishna, gestrandet in Mumbai, das damals noch Bombay hieß. Krishna wollte im Film nichts anderes, als wieder nach Hause fahren zur Mutter, doch das Geld fürs Zugticket, das entriss ihm das Leben auf der Straße immer wieder. Salaam Bombay! war kein Märchen, sondern eine Tragödie. Die Oscar-Nacht von Slumdog Millionär liegt einige Monate zurück, als Shafiq Syed an einem feuchtwarmen Morgen ein schäbiges Frühstückscafé in der Nähe des Geschäftszentrums von Bangalore betritt, stumpfer Kachelboden, abgegriffenes Holzmobiliar, es riecht nach Masala und süßem Tee, Shafiqs Lieblingsladen. Die neuen Coffeeshops in der Stadt, die nach Starbucks aussehen, aber bloß Kopien von Starbucks sind, mag er nicht. Besser gesagt: Er traut sich nicht rein. Shafiq trägt die Uniform der Rikschafahrer, olivfarbenes Hemd, olivfarbene Hose. Zwei Jahrzehnte sind vergangen seit Salaam Bombay!, Shafiqs Haare sind dünn geworden, Bartfusseln stehen ihm überm Mund, sein Gesichts ist rund und schrammig. Aber wenn man sich das alles wegdenkt, dann sieht man: Der Blick ist noch der gleiche, die Sehnsucht ist noch da, sie ist nur matter geworden. Shafiq ist gekommen, um sein Leben zu erzählen, seine Version der Wahrheit. Shafiqs Geschichte beginnt auf dem Steinboden vor Churchgate, dem südlichsten Bahnhof Bombays, einem mächtigen verwitterten Bau aus der Kolonialzeit, überlaufen bei Tag, schummrig bei Nacht, Treffpunkt und Schlafplatz der Straßenkinder von Bombay. Es war das Jahr 1987. Shafiq, dürr und ausgezehrt, ein zwölfjähriger Lumpensammler, war am Bahnhof Churchgate gestrandet, vor Monaten fortgelaufen von zu Hause. Vater, Mutter, neun Geschwister waren tausend Kilometer weit weg, in Bangalore. Lies weiter im SZ-Magazin: Shafiq wird zum Kinderstar und landet doch wieder auf der Straße

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