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Ein Mann schaltet hoch

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Lance Armstrong war gerade ein paar Stunden zu Hause in Austin, Texas, bei seiner schwangeren Freundin Anna und den drei Kindern, er war einige Wochen weg gewesen, weil er den Giro d’Italia gefahren war, jetzt schaute er The Wrestler auf DVD an mit Mickey Rourke. Dann griff er zu seinem Blackberry.»Agh«, schrieb er und schickte die Botschaft auf Twitter, »ziemlich deprimierend.« Mickey Rourke zeigt in The Wrestler einen Mann, der mal ein Großer war in seinem Sport und der nun abstürzt und fällt und fällt, bis er nicht mehr weiß, was mehr wehtut, der Aufprall oder die Erinnerung an die eigene Größe. Der Agh-Kommentar war einer von fünf Twitter-Einträgen an diesem Tag, wenig für Armstrong, der dieses neue Nachrichtenmedium auch gern nutzt, um zu sagen, wo er gut gegessen hat, wo er gerade trainiert oder was sein Sohn Luke aus Lego gebaut hat. Eine Million Follower hat er mittlerweile, also Menschen, die ständig darüber informiert werden wollen, was er gerade denkt und tut – damit liegt Armstrong hinter Ashton Kutcher, Barack Obama und Oprah Winfrey, aber vor Coldplay und Al Gore. Das ist die Welt, in der sich Armstrong heute bewegt. Agh: Er wird nicht abstürzen. Er wird nicht fallen. Armstrong ist kein Sportler im altmodischen Sinn. Er ist ein Mann mit Hollywoodnähe und großen politischen Ambitionen. »Er könnte jederzeit antreten und würde wohl gewinnen«, sagt der Politikwissenschaftler Jim Henson von der University of Texas. Die Frage scheint zurzeit: Wird er erst 2014 Gouverneur von Texas oder doch schon 2010? Und: Ist das nur der erste Schritt auf seinem Weg zum Präsidenten? Könnte Lance Armstrong der nächste Arnold Schwarzenegger sein? »Ich?« Lance Armstrong lacht. »Darüber reden wir besser in den nächsten Tagen mal.« Dann entschuldigt er sich und rollt davon auf seinem Rad. Es ist ein ganz normaler Morgen beim Giro d’Italia. Drei Jahre war er weg, der erfolgreichste Radfahrer des Planeten: Siebenmal hat er die Tour de France gewonnen, dieses dopingverseuchte Rennen in diesem dopingverseuchten Sport, keinen haben die Journalisten so gejagt wie ihn mit ihren recht konkreten Dopingvorwürfen. Drei Jahre war er weg und hat sich in Austin um seine Krebsstiftung Livestrong gekümmert und um seine Kinder, hatte Affären mit den Schauspielerinnen Eva Longoria, Kate Hudson und Ashley Olsen, ließ sich oft fotografieren und schien erwachsen genug, sich nicht mehr dauernd quälen zu müssen – doch jetzt ist er wieder da und fährt Rad. Die Frage ist, was er damit bezweckt. Er wolle die Franzosen ärgern, denen er all die Jahre auf die Nerven gegangen ist, so ähnlich hat er das im vergangenen Herbst formuliert. Vor allem aber wolle er seine Krebsstiftung bekannt machen. Jonathan Vaughters, der 1999 bei Armstrongs erstem Toursieg mit zum Team gehörte und heute den US-Rennstall Garmin-Slipstream leitet, ist anderer Meinung. Er hat Armstrong beim Giro zugeschaut und sich nicht blenden lassen von dessen ergrauten Schläfen: »Lance hat einfach den Wettbewerb vermisst.« War ihm also langweilig? Kann Armstrong einfach nicht ruhig sitzen? Oder hat er einen geheimen Plan? Die Antwort auf diese Fragen hängt stark davon ab, wie man die Welt sieht – also auch davon, wo man lebt. In Europa beschimpfen sie Armstrong meist als Lügner und Egomanen, in Amerika feiern sie ihn als Helden und Überlebenden. In Europa reden sie von Doping. In Amerika von Krebs. Krebs ist das Schlüsselwort, um zu verstehen, wer Lance Armstrong ist, was sein Kampf ist, was sein Sieg, was sein Ehrgeiz. Er hat den Krebs überwunden und daraus einen persönlichen Triumph gemacht. Krebs ist die Plattform für sein gesellschaftliches Engagement. Und für seine politischen Pläne. Die Diagnose erhielt er am 2. Oktober 1996, mit 25 Jahren: Hodenkrebs, weit fortgeschritten, Metastasen in Lunge, Bauch und Gehirn, Überlebenschance fifty-fifty. Ihm wurde der Kopf aufgesägt, der Körper aufgeschnitten und der Krebs bestrahlt, Armstrong entschied sich für eine besonders harte Chemotherapie. »Schmerz vergeht«, schreibt Armstrong in seinem Buch Tour des Lebens«, »aber wenn du aufgibst, bleibt dir diese Schmach für immer.« Es ist diese Härte, die an Armstrong fast unmenschlich wirkt: »Ich fahre nicht zum Vergnügen Rad, sondern wegen der Schmerzen«, so beschrieb er einmal seinen Antrieb. »Wenn ich nicht leide, fühle ich mich betrogen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr schien mir auch mein Krebs wie ein Rennen.« Der Kampf gegen den Krebs war für ihn einer wie all die Kämpfe davor und danach, und er begann nicht in den langen, einsamen Stunden im Krankenhaus. Der Kampf begann, als Lance drei Jahre alt war, er hatte dafür trainiert, seitdem ihn sein Stiefvater, der cholerische, christliche Terry Armstrong, regelmäßig mit einem Holzpaddel verdrosch. »Wenn ich nur lange genug radle«, diesen Gedanken hatte er schon als Kind, »dann führt mich diese Straße aus meinem Elend heraus.« Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Ich wollte lange nicht darüber nachdenken, warum ich diesen Sport mache".

Text: philipp-mattheis - Von Georg Diez und Andreas Burkert / Fotos: Simon Bruty/Sports Illustrated/Getty Images

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