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Ekel

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Von Hermann Droske Es ist der seltsamste Bestseller seit Langem: ein Roman über ein kaputtes Arschloch, 220 Seiten lang. Man erfährt darin, wie schmerzhaft eine Analfissur sein kann, wie der Eiter ausgedrückter Pickel schmeckt und wie man auf der Proktologie die Krankenschwestern austrickst, die auf den ersten postoperativen Stuhlgang lauern. Über 650 000 Exemplare hat Charlotte Roche seit Februar von ihren Feuchtgebieten verkauft, mittlerweile muss man sich auf Partys darauf gefasst machen, in Unterhaltungen über Themen verwickelt zu werden, die normalerweise sogar in Selbstgesprächen tabu sind. Roche gibt die Passionsgeschichte ihrer Heldin als eine Ästhetik des Widerstands aus, sagt, sie habe es einfach nicht mehr ertragen, wie sehr in unserer Kultur Frauenkörper dazu genötigt werden, sich zu duschen, rasieren, keimfrei zu halten. Fast klingt es, als hätten Hakle-Feucht-Taliban das Hygiene-Regime übernommen. Warum sich so viele Menschen für ein Buch interessieren, dessen Botschaft sich auch im Satz zusammenfassen ließe, dass es im Fernsehen zu viele Slipeinlagen-Werbespots gibt, erklärt man sich lange mit den Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie: Eine aus dem Fernsehen bekannte Autorin, die auf Fotos adrett aussieht (jedenfalls nicht, als rieche sie streng), schreibt einen provokanten Text über Igitt-Themen und wird daraufhin so lange durch die Medien gereicht, bis jeder wissen will, wovon da eigentlich die Rede ist. Und plötzlich fällt einem auf, dass auch das zweite Debatten-Buch dieses Frühjahrs, Jonathan Littells Die Wohlgesinnten, echt voll ekelig ist. Littells Un-Held Max Aue erzählt en gros et en détail über Läuse in Körperfalten, Ruhr-Fluten, versiffte Mannschaftsunterkünfte und den unangenehmen Körpergeruch der Opfer nationalsozialistischer Rassenhygiene. Wann immer es bei Littell zur Sache, also zum Massenmord geht, halten sich auch die Körperflüssigkeiten nicht zurück; Rezensenten sagen ihm nach, so genau hätte es vor ihm noch keiner erzählt. Noch eine dritte Ekel-Epidemie lässt sich verfolgen, sie allerdings wird vom Feuilleton kaum wahrgenommen. Im Internet-Trailer eines brasilianischen Koprophilenpornos namens 2 Girls 1 Cup bekommt man zu sehen, wie zu romantischem Klaviergeklimper zwei Frauen versuchen, ihre Verdauungsprodukte erneut zu verdauen. Länger als fünf oder zehn Sekunden hält das beim Zuschauen der eigene Körper nur aus, wenn man ihn dazu zwingt, und weil das so ist, drängen weltweit gerade ungeheuer viele Leute ihre Freunde und Verwandten dazu, sich diesen Porno anzusehen, um ihre Ekel-Reaktionen zu filmen und hinterher auf die Internetplattform Youtube zu stellen – lauter Videos, in denen man Menschen sieht, die sich mächtig ekeln vor einem Video, das man nicht zu sehen bekommt. Doch der Schmutz, der uns unter die Nase gehalten wird, ist gar keiner, sondern nur ein Postulat. Er stinkt nicht, klebt nicht. Wirklicher Ekel wird ohnehin keinem zugemutet, der die Feuchtgebiete liest oder seine Resistenz an 2 Girls 1 Cup misst: alles bloß Papier, nur ein Video, hinterher muss man sich nicht duschen. Selbst wenn der Ekel aus der literarischen und virtuellen Welt in die Wirklichkeit schwappt, wie bei den Berichten und Bildern aus dem Verlies von Amstetten, uns bleibt immer der Trost: Keiner davon kann uns so nahe kommen wie Josef Fritzl seiner Tochter, 24 Jahre lang, jede Näheerfahrung immer und immer wieder eine des Nahtods. Gerade in Österreich, einem Land, in dem man sich mit Ekelkunst bestens auskennt, wie die blutigen Happenings der Aktionskünstler Hermann Nitsch und Otto Muehl belegen, ist man gut darin, den Leuten auf den Leib zu rücken und die Grenzen zu übertreten, die man braucht, um unversehrt bleiben zu können – und jedes Mal, wenn in unserem Nachbarland »rein zufällig« wieder »etwas passiert« ist, empfindet man wieder den Ekel vor den Leuten, die anderen den Ekel zumuten. Den Rest des Textes findest du auf sz-magazin.de.

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