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Immer mit der Ruhe

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Tag 1 Westberliner Vormittag. »Im noch zuckenden ehemaligen Herz der Stadt«, beschrieb ein Journalist die Lage unseres Büros. Stau vor den Boutiquen. Sehr alte Russinnen versperren in dicken Trauben die Seitenstraße, in der ich parken will. Einparken, ohne fluchen zu dürfen: Das ist die Vorhölle. Schmerzhaft wie eine Brandwunde ohne Kühlung. Ich brumme in kurzen Intervallen. Schimpfworte, die nicht rausdürfen, geistern unausgesprochen über meine Lippen. Leidet so ein Tourette-Patient?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ich will »Jesus« sagen und sogar »Fucking« und »Arschloch«, mit jedem vergeblichen Versuch, eine Lücke zu finden, und jedem Punto, der vor mir einen Platz ergattert hat. Ich darf seufzen! Und parke im Halteverbot. Dies ist der erste Tag eines Experiments. Eine Woche schweigen. Ich spreche generell nicht viel. Nicht, weil mir nichts einfällt, sondern weil es mich anstrengt. Beim Small Talk suche ich immer nach Themen, von denen ich annehme, dass sie irgendwie passen, die mich aber im Grunde überhaupt nicht interessieren: die Grippewelle im Januar; warum die Bahn im Winter immer total überfordert ist; ob Boris Becker noch in der Pubertät ist. Das ist mir alles egal – aber ich unterhalte mich auf Stehpartys über diese Dinge, als bestünden darin die letzten Wortwechsel meines Lebens; stets etwas hastig und unentspannt. Man müsste Schweige-Partys organisieren. Keiner darf was sagen. Alle stehen da und trinken und gucken und nicken. Würde wahrscheinlich kaum einer mitmachen. Was aber, wenn man das nur für sich durchzieht? Eine Woche lang nichts sagen. Also noch weniger als sonst. Gar nichts. SMS, Briefe und Mails – okay. Ansonsten: Klappe halten. Kein einziges Wort sprechen. Und um’s spannender zu machen: vorher niemandem etwas sagen. Einfach morgen früh loslegen. Ganz normal aufstehen, nur nichts mehr sagen. Das stelle ich mir sehr schön vor. Mal sehen, was passiert. Das Vorhaben ist in zwei Zeilen erklärt. Ich schrieb sie am Vorabend auf und lasse sie meine Frau jetzt laut vorlesen: »Will eine Woche lang schweigen und Tagebuch führen. Ein Experiment.« Sie sieht mich an, prüft wohl, ob es ernst gemeint ist. Hält es, glaube ich, für einen Scherz und spielt mit. Kurz darauf leise Umarmung. Dem unbändigen Abschiedsritual meines Sohnes begegne ich mit heftigem Grimassieren, was sicher wahnsinnig albern aussieht. Er grimassiert zurück, scheint aber ansonsten nichts zu vermissen. Frau fährt zur Fortbildung in die Lüneburger Heide, nimmt den Sohn mit. Ein Vorgeschmack auf die bevorstehende Woche ohne Sprechen: Geräusche. Vier Füße auf der Treppe. Die Haustür fällt langsam zu, ich bin gerührt. Als Einziger. Fünf Minuten später fahre ich ins Büro. Der Verkehr steht zäh, mein Navigationssystem wird kreativ. Die Dame spricht am laufenden Band. Ferres-Momente, wenn ihre Stimme übergluckst. Kurz gut gegen die eigene Stille. Sie betont Straßennamen, als seien es eingeölte Körperteile: »Kurfürstendamm« klingt plötzlich ekelhaft, wie der glänzende Damm des Kurfürsten. Schalte sie stumm. Muss noch ein Paket abgeben. Postfrau frankiert atemlos, rasend und stumm. Zum ersten Mal wünsche ich ihr keinen schönen Tag. Hab ich all die Jahre gemacht, sie hat nie geantwortet. Fast eine kleine Rache. Gehe befriedigt. Hab ich sie da noch leise grüßen hören? Im Büro begrüße ich alle mit Handschlag. Wirke wie ein Vorschüler, der seinen Chemiebaukasten mit Leuchtkristallen auspackt. Ich halte ihnen die Notiz hin, die ich zuvor meiner Frau zeigte. »Mal wieder ein verrücktes Experiment.« Sagt der Redakteur, der auch heute zu spät war. Dabei knistert er leise. Er trägt wieder Polyester. Könnte ich ihn jetzt drauf hinweisen. Zusammenhänge zwischen Polyester, elektrischer Spannung und Körpergeruch herstellen. Er weiß nun, dass ich es nicht darf. Der Wind hat sein krauses Haar zu einem turbanförmigen Klump geweht. Ich sammle Synonyme für sein Haar: Buschgras, Maisbeulenbrand, Rolf Töpperwien. Muss sie alle bei mir behalten. Das ist nicht leicht. In meinem Bürozimmer lasse ich die Tür einen Spalt auf. Um alle Unterhaltungen mitzubekommen. Scheine ständig entscheidende Teile zu verpassen. Habe das Gefühl, dass man nur über mich spricht. Wie ein Kiffer. Wortfetzen werden in meinem Kopf zu Sätzen, Behauptungen, Fragen. Beginne, in Gedanken zu antworten. Schließe die Tür. Weiterlesen auf sz-magazin.de.

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