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Wir haben schon zwei Seiten. Zwei Seiten sind ein Riesen-Erfolg, wenn man bedenkt, dass Mitte Oktober ist, lange Zeit keine einzige Zeile existierte – und es auch nicht so aussah, als würde es vor November irgendwas werden mit dem Text. Der 8. November ist Abgabetag für die Seminararbeit an bayerischen Gymnasien; anderswo in Deutschland heißt das Facharbeit, gelten andere Termine und andere Regeln. Aber eine schriftliche Arbeit größeren Umfangs muss jeder Abiturient schreiben. Oder schreiben lassen.

Wer kein Streber ist, hat mir mein Sohn Marc erklärt, beginnt maximal eine Woche vor der Abgabe, geschrieben wird frühestens in den letzten drei Tagen; redigiert, korrigiert, formatiert und gedruckt in der letzten Nacht. Dabei fließt der Text, der im Rahmen eines sogenannten W-Seminars, eines wissenschaftspropädeutischen Seminars, geschrieben wird, stark in die Abiturnote ein (sie kann – je nach Notenschnitt – bis zu einem Zehntel ausmachen); ein mehr oder minder wissenschaftliches Werk soll da also entstehen – mit Fußnoten, wissenschaftlichem Apparat, umfassendem Material, eigenen Ideen, dem ganzen Zauber. Ich wünschte, mein Sohn hätte was von einem Streber.

Marc findet, er habe noch viel Zeit. Seine Kumpels sind auch noch nicht weiter. Ich schimpfe. Er geht eine rauchen. Ich frage zum tausendsten Mal, ob ich was beitragen kann. Er sagt: »Lass mich in Ruhe.« Noch drei Wochen bis zur Abgabe. Eine befreundete Lehrerin sekundiert: »Reg dich ab. Mitte Oktober? Da haben die meisten noch nicht mal eine Gliederung.« Abregen? Ich bin gerade erst dabei, mich richtig aufzuregen. Kann man so eine wichtige Arbeit nicht mal systematisch und fristgemäß anfangen? Marc schläft, die letzte Nacht unterwegs war wieder so anstrengend.   Mein Sohn heißt nicht Marc, wo er zur Schule geht, wie er wirklich heißt, wie das genaue Thema seiner Seminararbeit lautet, sei hier verschwiegen, wie bei all den folgenden, wahrheitsgemäßen Schilderungen aus dem deutschen Schulalltag, die einem zurzeit nur so zufliegen. Schließlich kriegt man bei einer nachgewiesenen Fälschung, einem GuttenPlag für Anfänger sozusagen, null Punkte, Note 6 also. Mit dem Abitur ist es erst einmal vorbei, das Jahr muss wiederholt werden.

Schüler müssen eine Selbstständigkeitserklärung abgeben: »Hiermit erkläre ich, dass ich diese Seminararbeit selbstständig …« und so weiter. Aber das ist eine Farce. Nicht erst seit das unmäßige Zitieren in Doktorarbeiten einige Politiker die Karriere gekostet hat, weiß man, dass der strategisch kluge Besuch im Internet die halbe Miete ist. Copy & paste, einfügen, umformulieren. Und alle Lehrer wissen auch, dass Mama und Papa im Hintergrund stehen, falls sich die Kinder als unbegabt oder faul erweisen, und dass ehrgeizige Eltern gern eingreifen, damit ihr Kind besonders gut abschneidet. Meine Freundin, die Lehrerin, befindet resigniert: »Klar gibt es auch Jugendliche, die das allein machen – und sehr gut. Meine Erfahrung sagt mir leider: Das ist nicht die Regel.«

Ein Rückblick

Kurz vor Ende der großen Ferien. Mein Sohn findet, er habe ein Recht auf Erholung. Ich fände es schöner, wenn er sich nach dem Abitur erholen würde. Marc erzählt, manche seiner Kumpel mieteten Studenten zur Unterstützung der Seminararbeit an. Ja, er kenne jemanden, der sei sogar von seinen Eltern nach Brüssel geschickt worden, dort hat ein Kommissions-Mitarbeiter, mit dem sie befreundet sind, gegen Entgelt mit dem Sohn die Arbeit geschrieben. Das Thema: Die EU-Kommisson. Wahnsinn, wie inkonsequent ist das denn? Das müssen die Jugendlichen wirklich selbst schaffen. Ohne Fleiß kein Preis. Außerdem: Was wären wir denn für Vorbilder, wenn wir unsere Kinder zu Fälschern erzögen? Allerdings: Es ist mittlerweile Ende August. Wenn ich das Wort »Facharbeit« sage, macht Marc seine Tür zu.

Wir schreiben nicht zusammen. Natürlich nicht. Unser Thema: Die Auswirkungen der Bauhaus-Architektur auf die Moderne. Ein schönes Thema. Ein ästhetisches Thema. Ich kenne mich mittlerweile aus. Ich könnte Referate aus dem Stand darüber halten. Marc hat sich ein Passwort auf seinem PC zugelegt, damit ich nicht kontrollieren kann, wie viel er wieder – nicht – geschrieben hat.

»Was sind eigentlich die Kriterien«, frage ich Marc, »welches Thema für eine Seminararbeit infrage kommt?« Der sagt müde: »Eigentlich geht jedes, man muss es nur mit dem Lehrer abgesprochen haben.«

Ich finde, ich bin nicht übergriffig. Nur pessimistisch. Meine Freundin Hannah hat mich gewarnt: »Bei uns sollte es Ovid sein. Ovid und dessen Exil. Drei Tage vor der Abgabe zeigte mir mein Sohn das Ergebnis seiner Bemühungen: eine leicht umformulierte, mehrseitige Abschrift aus zwei Wikipedia-Einträgen: Ovid – und Exilliteratur. Ob das reiche, wollte er wissen. Ich lachte, dann bekam ich Panik. Pädagogischer Wahnsinn, ich weiß. Total falsch. Ich habe es unter Notwehr verbucht und drei Tage und drei Nächte an dieser Arbeit gesessen. Wir haben zwölf Punkte bekommen. Er hat sich immerhin bedankt.«

Pädagogische Ratgeber warnen auch: »Zu viel elterliche Hilfe bringt das Kind um das schöne und beflügelnde Erlebnis, eine Aufgabe ohne Unterstützung bewältigen zu können.« Aber was, wenn das Kind nicht beflügelt ist? Es ist Mitte September. Ich dränge auf einen Besuch am Kunsthistorischen Seminar der Uni, Recherche zum Thema. Marc geht mit, um seine Ruhe zu haben.

Eigentlich müsste der Junge schon weiter sein. Das bayerische Kultusministerium informiert: »Das wissenschaftliche Arbeiten wird in der Kollegstufe über zwei Jahre hinweg geübt und von einem Lehrer begleitet. Ein Jahr vor der Abgabe werden die Themen verteilt. Es gibt Zwischenpräsentationen und gemeinsame Bibliotheksbesuche. Die Jugendlichen sind also nicht allein gelassen, sondern befinden sich in einem permanenten Arbeitsprozess.« Permanent? Prozess? Die Freundin einer Freundin über ihren Sohn Andi (es sind fast immer Söhne, das muss genetisch sein): »Er hat das Thema Tennistradition am Beispiel von Wimbledon 2011. Leider hat er aber das Turnier nicht angeschaut. Keine Zeit. Er hat auch nichts aus der Zeitung ausgeschnitten. Keine Zeit. Jetzt fragt er mich, ob ich was über Wimbledon besorgen kann – ›’n Buch oder so‹. Im Internet gäbe es angeblich zu wenig. Ich rufe: ›Nein! Selbst schuld.‹ Und heimlich sammle ich Berge von Zeug. Er wird es brauchen.«

Den Rest der Geschichte liest du bei den Kollegen vom SZ-Magazin.

Text: jetzt-Redaktion - Foto: Christian Kerber

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