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Sie hatten nur ihre Liebe

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Von Erwin Koch Hast du schon einmal geküsst? Angela ist 13, geboren am 6.7. 1974 in Mingir, Sowjetrepublik Moldau, Andrei ist zwei Jahre älter, geboren in Mingir an der Ostkante Europas. Mit der Zunge musst du küssen, nicht mit deinen Zähnen, kichert das Mädchen. Sie hat Blutgruppe AB Rh+. Er hat Blutgruppe B Rh+. Angela ist die jüngste von drei Geschwistern, Andrei der jüngste von sieben, 5000 Familien im Dorf. Ihr Vater fährt die Traktoren der Kolchose, seiner ist Melker. Wenn Andrei Chitanu die Kühe hütet, legt sich Angela Botezatu heimlich zu ihm. Die Schläge des Vaters nimmt er in Kauf. Im Sommer Staub, im Winter Schlamm. Angela, 15, der Schule entkommen, zieht ein Jahr lang zu ihrer Schwester Ala in die Ukraine, wird Pralinenmacherin. Andrei bleibt in Mingir, wartet und arbeitet, wo viele arbeiten, in der Kolchose, Andrei hat langes dunkles Haar, ein schmales Gesicht. Am Tag, bevor er Rekrut der Roten Armee wird, schenkt er Angela eine blaue Schachtel.Für die Briefe, die ich dir schicken werde, jeden Tag einen. Sie lacht, Angela glaubt ihm nicht, sie lacht und weint.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

1.6.1990, sechs Uhr, Andrei steigt in den Bus. Vier Tage später der erste Brief: Jetzt bin ich kahl wie ein Apfel. Angela nummeriert Andreis Briefe, legt sie in die blaue Schachtel, 22 Monate lang, 600 Briefe, Nr. 126: I LOV YOU. Im April 1992 kehrt Andrei ins Dorf zurück, die Sowjetunion ist nicht mehr, er wohnt auf dem Hügel im kleinen weißen Haus der Eltern. Ohne Arbeit am Ende von Europa. Andrei Chitanu, 20, und Angela Botezatu, 18, reisen nach Sibirien, Angela legt, bevor sie geht, einen Zettel auf den Tisch: Mama, Papa, ohne Andrei will ich nicht sein. Sieben Tage im Zug bis Solikamsk, vier Stunden im Boot bis Kicevo. Andrei ist jetzt Flößer, Angela kocht für ihn, bringt ihm Wasser in den Wald, Brot, Kuchen, Küsse. Angela ist schwanger. Am 6.9.1992 sind sie wieder in Mingir, Moldau, 28000 russische Rubel im Gepäck. Am 7.9.1992 schickt Andrei, schmal und mutlos, die Zähne faul, einen Freund zu Angelas Eltern. Andrei Chitanu bittet Sie um die Hand Ihrer Tochter Angela, er sagt, er liebt Angela wie sich selbst und werde Angela immer lieben und immer für sie sorgen. Heirat in Weiß, 25.10.1992. Sechs Tage später das Fest, zuerst bei ihren Eltern, dann bei seinen, im Garten steht ein Zelt, darin drei Reihen von Tischen, Andrei hat ein Schwein gekauft, hat es schlachten lassen, was verbraucht ist, ist verbraucht, fast täglich verliert das Geld an Wert. Mit sechs anderen aus dem Dorf Mingir fährt Andrei nach Swerdlowsk, Russland, wird Stallknecht, Angela, 18 und schwanger, bleibt bei ihrer Mutter, füllt die blaue Schachtel.Zwei Monate später ist Andrei zurück, 7500 Rubel. Am 15.3.1993 kommt ein Sohn zur Welt, sieben Wochen zu früh, 1400 Gramm, Angela gebärt im Krankenzimmer von Carpineni, einem Nachbardorf, ihr Kind ist zu schwach, sie bringt es in die Hauptstadt Chisinau, wacht an seinem Bett. Ein drittes Mal reist Andrei nach Russland, 6000 Kilometer weit, wird Feuerwehrmann auf einer Ölbohrstation in Surgut. Angela und ihr Sohn Ion leben bei Angelas Mutter. Andreis Eltern begreifen nicht, dass das Kind nach Angelas Vater heißt, nicht, wie es Brauch ist, nach dem Vater des Vaters. Er gehorcht ihr, flüstern sie, wie ein feiger Hund. Oktober, Andrei kommt aus Russland. Besser, wir wären in Sibirien geblieben, klagt Angela. Andrei ist Tagelöhner, Maurer, Stallknecht, Holzfäller, Straßenbauer, Weinbauer, Gänsehirt, Traktorfahrer, Fabrikarbeiter, Kuhhirt.Die Geburt von Vasile, 8.10.1995. Andrei, 23, leiht sich Seife von seinen Eltern. Wenn sie nicht weiter weiß, zündet Angela in der Kirche eine Kerze an und schämt sich, dass sie die Kerze nicht bezahlt. Angela und Andrei ziehen in das kleine weiße Haus seiner Eltern an einer Straße ohne Namen, kein Wasser darin, kein Strom, die Toilette im Garten, belagert von Hühnern. Es geht den anderen nicht anders, sagt er, alle hier sind arm. Alle außer Nina, denkt Angela. Von Nina U. heißt es, sie sei reich geworden, weil sie eine ihrer Nieren verkaufte, Oktober 1998. Ich kann dir helfen, du bist jung und gesund, 3000 Dollar für eine Niere, eine Woche bist du fort, eine kurze Woche in Istanbul, hast keine Schmerzen, viel Geld. Tu’s nicht, sagt Andrei. Ich will, sagt Angela. Ohne Grund hat der Mensch nicht zwei Nieren. Eine zu viel. Wenn Andrei mich nicht fahren lässt, denkt sie, fahre ich heimlich. Angela übergibt Nina U. ihren Personalausweis, Tage später hat sie ihren Reisepass, A1486930, Augenfarbe graugrün, Größe 155 cm. Nina U. sagt: In vier Wochen geht’s los, in fünf bist du wieder hier. Tu’s nicht!, bittet Andrei. Und Angela wird schwanger. Hier liest du weiter!

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