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Tödlicher Aberglaube: Verloren und verdammt

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Von: Susanne Schneider (Text); Anita Khemka (Foto) 

Kurz war ihr Leben und elend. Und grausam ihr Tod. Sie verreckte diesen Sommer, auf irgendeiner Straße in den Slums beim neuen Busbahnhof. Ein Mädchen von elf Jahren aus einer Stadt in Südindien. Eiswürfel lagen neben ihrer Leiche. Keiner war da, der um sie trauerte; selbst ihre Familie war erleichtert, sie endlich los zu sein. Sie hieß Anjeli; ein Name, da schwingt in unseren Ohren das Wort Engel mit. Die sie kannten aber, wussten, dass in ihr der Teufel steckte.

Anjeli hat Millionen Schwestern. Fast alle leben in Indien, fast alle sind Mädchen, fast keiner kennt sie. Man nennt sie verfluchte Kinder; versteckt sie, weil man sich ihrer schämt und weil sie jedem Unglück bringen, der sich mit ihnen abgibt, davon sind ihre Familien, ihre Nachbarn überzeugt. Und davon, dass die Mädchen selbst schuld sind an ihrem Fluch: Hätten sie in ihrem vorigen Leben nicht großes Unrecht begangen, müssten sie in diesem Leben nicht dafür büßen. Und weil jeder für sein Schicksal, sein Karma, selbst verantwortlich ist, braucht niemand Mitleid mit ihnen zu haben. Schon gar nicht mit einem Kind wie Anjeli.

Sie war noch gar nicht geboren, da war sie bereits ohne Chance: Ihr Vater wurde ermordet, als Anjelis Mutter mit ihr schwanger war, eine Familie ohne Mann nennt man im Süden Indiens ein größeres Unglück als den Tod. Als Anjeli sechs Monate alt war, starb ihre Mutter, dann auch noch ein Bruder. Und alle fragten sich: Warum überlebt ausgerechnet dieses Mädchen? Es kam nur eine Antwort in Betracht: weil sie verflucht ist, weil sie allen Unglück bringt. Stirbt ein männliches Mitglied der Familie oder wird der Vater oder ein Bruder krank, läuft ein Mädchen schnell Gefahr, eine Daritaram genannt zu werden, ein verfluchtes Kind. So geschah es mit Anjeli. Kein anderes Kind spielte mehr mit ihr. In der Schule wurde sie gehänselt, die Lehrer schritten nicht ein. Und weit und breit keine Menschenseele, die sagte: mein Gott, das arme Kind. 
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