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D. Watkins war Crack-Dealer – heute unterrichtet er Literatur

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D Watkins verdiente früher viel Geld als Drogen-Dealer. Der 33-Jährige wuchs in der „Beastside“ auf, im armen Osten von Baltimore. „Beastside“ heißt auch sein Essayband über den Alltag vieler Schwarzer in US-Großstädten. Watkins unterrichtet heute Literatur an der Coppin State University und seine Artikel erscheinen in der New York Times, im Guardian und bei Salon.com. Er schreibt darin über die allgegenwärtige Waffengewalt und darüber, wie Fast Food viele Schwarze krank macht.

D, warum ist es dir so wichtig, junge Afroamerikaner für Literatur zu begeistern? 

D Watkins: Lesen ist so wichtig wie Wasser. Wenn mir meine Studenten sagen, dass sie keine Bücher mögen, dann frage ich sie: „Warum denkt ihr, dass Sklaven früher mit dem Tod bestrafen wurden, wenn sie lesen konnten?“ Man wollte nicht, dass die Schwarzen komplexe Entscheidungen treffen können und irgendwann frei kommen. Ich sage ihnen: Lesen ist ebenso wichtig wie Kenntnisse über Finanzen und über gesunde Ernährung.

Du bist in einem Armenviertel in Baltimore aufgewachsen und hast mit Drogen gedealt. Wie wichtig ist deine Herkunft, damit dich Teenager ernstnehmen?   

Die Street Credibility ist entscheidend. Ich passe nicht in die Welt der Literaten und das will ich auch gar nicht. Ich habe ein Ziel: Ich will die Leute in meiner community überzeugen, dass ihre Geschichten wertvoll sind. Lange Zeit dachte ich, mein Leben sei irrelevant – doch das ist es nicht. Es gibt viele schwarze Autoren, die auf arme Leute herab schauen und daher nicht ernstgenommen werden.

Was unterscheidet dich von diesen Schriftstellern?

Sie sind zwar als Schwarze in den USA aufgewachsen, aber sie hatten Geld und Bildungschancen. Wenn sie über Ferguson oder Baltimores East Side schreiben, dann legen sie ihren privilegierten Blick nicht ab. Ich komme von ganz unten und fühle mich dort wohl. Ich liebe die Leute um mich herum und wohne immer noch dort, wo ich aufgewachsen bin. Wenn ich an High Schools gehe, um für Schreibkurse zu werben, dann merken die Schüler, dass ich ihnen keinen Mist erzähle.

Warum hast du eigentlich die Uni verlassen und bist Crack-Dealer geworden?

Ich war ein guter Schüler, doch an der Loyola-Uni hat es mir überhaupt nicht gefallen. Mit einem weißen Kommilitonen habe ich Kokain verkauft und bin gar nicht mehr in die Vorlesungen gegangen. Ich habe das Drogen-Geschäft meines älteren Bruders übernommen und als Crack-Dealer so viel Geld verdient, dass ich meinen Freundinnen jederzeit einen „Beemer“ kaufen konnte. So nennen wir BMWs in der East Side von Baltimore. Erst mit Mitte 20 ging ich wieder zur Uni und dort habe ich mit dem Lesen angefangen. 

Warum haben dich Bücher früher nicht interessiert?

Ich habe früher kaum gelesen und hielt, wie viele Afroamerikaner, Bücher für etwas Weißes. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal Literatur an der Coppin State University unterrichten würde. Alles änderte sich, als ich Romane wie „The coldest winter ever“ der Rapperin Sister Souljah oder „Clockers“ von Richard Price entdeckte. Ich hatte keine Ahnung, dass man so schreiben kann und der Alltag eines Großstadt-Dealers irgendjemand interessieren könnte. Danach habe ich begonnen, alle Klassiker zu lesen, die ich früher missachtet habe. Heute, mit 33, bin ich süchtig nach Büchern.  

Halten viele junge Schwarze Literatur für etwas Elitäres? 

Wenn ich an Colleges rede, höre ich so etwas oft. Neulich bin ich durch East Baltimore geradelt und ein Teenager hat mir gesagt, dass er nur meine Essays liest. Ich habe ihm gesagt: „Danke, das ehrt mich, aber hör nicht auf. Lies weiter, interessiere dich für die Geschichten von anderen.“ Nur wenn wir einander aus unserem Leben berichten, dann können wir als Gesellschaft vorankommen. Weiße und Schwarze mögen zwar verschieden sein, aber wir haben genug gemeinsam, um uns nicht die Köpfe einhauen zu müssen. Auch deswegen gehe ich in Baltimore jede Woche in eine andere High School.

Im April 2015 starb der junge Freddie Gray in Baltimore in Polizeigewahrsam. Was hat sich seither in der Stadt verändert? 

Die Stimmung ist gedrückt, aber gerade die Sozialarbeiter tun alles, um unseren Leuten zu helfen, Jobs zu finden, Geld zu verdienen und zu verhindern, dass ihren Kindern etwas passiert. Und nun kann keiner leugnen, dass sich Weiße und Schwarze in vielen US-Städten wie Baltimore kaum begegnen und es unter Schwarzen und Latinos kaum Vertrauen in die Polizisten gibt.

Verhalten sich die Cops nun anders?

Einige geben sich mehr Mühe, weil sie bloßgestellt wurden vor der ganzen Welt. Selbst Chinesen wissen nun: Polizisten aus Baltimore sind scheiße. Andere hassen uns Schwarze jetzt nun noch viel mehr. Sie glauben weiter, dass sie das Recht haben, einen unbewaffneten Menschen zu jagen und zu töten. Es ist so extrem, jeder muss sich entscheiden, auf welcher Seite er steht.

Obama? Nur weil er Präsident war, gelingt das keinem von uns.

Wird über diese Themen im Präsidentschaftswahlkampf 2016 geredet?

Ich habe kein Vertrauen in die Kandidaten. Wenn Politiker nach Baltimore kommen, dann besuchen sie das Denkmal für Freddie Gray und umarmen Babys für die Kameras. Aber hätte sich Clinton an einen Tisch mit Freddie gesetzt, als dieser noch gelebt hat? Niemals. Von Donald Trump oder Jeb Bush erwarte ich das nicht, aber die Demokraten scheren sich auch nicht wirklich um uns. Bei der Vorwahl in Maryland Ende April werde ich für Bernie Sanders stimmen, aber wirklich begeistert bin ich nicht. Wir müssen selbst dafür sorgen, dass es besser wird. Meine Botschaft ist: Wenn ihr Kandidaten uns mit Fördergeldern helfen könnt: Toll! Aber lasst uns mit euren Reden in Ruhe und kommt gar nicht erst her.   

Was denkst du über Barack Obama, dessen Amtszeit bald zu Ende geht?

Ich glaube, dass er alles versucht hat. Ich wünschte, dass er besser erklärt hätte, dass unser System auf Kompromissen basiert und ein Politiker allein nicht alles ändern kann. Viele Amerikaner wissen das nicht und sind enttäuscht, weil sie sich von ihm im Stich gelassen fühlen. Ich mag Obama, er ist sehr intelligent und der Rassismus hat ihn wohl überrascht. Wenn er sagt, dass heute die Sonne scheint, dann behaupten die Republikaner, dass er lügt. Sie widersprechen ihm stets und wollen auf keinen Fall kooperieren. Sie mögen eine andere Weltsicht haben, aber irgendwie dachten doch alle, dass sie zumindest offen sind für Argumente. Das alles ist sehr ärgerlich und erbärmlich.  

Hat es für die Schüler an der High School, mit denen du Texte verfasst, eine besondere Bedeutung, dass ein Schwarzer im Weißen Haus sitzt?

Symbolisch ist das schon wichtig, aber in Wahrheit sind wir extrem weit entfernt von ihm. Nur weil er Präsident war, gelingt das keinem von uns. Keiner geht wie er an die Elite-Unis Columbia und Harvard – viele von uns schaffen es niemals ans Community College. Wenn du als schwarzer Mann in den Neunziger Jahren in Baltimore aufgewachsen bist, dann hat unser beschissener Bürgermeister Martin O'Malley dafür gesorgt, dass jeder zumindest ein Mal im Knast war. Wenn das in deiner Akte steht, dann hast du Probleme, eine Wohnung oder einen Job zu finden. Zum Glück war O'Malleys Kandidatur fürs Weiße Haus so ein Desaster.  

In „Beastside“ schilderst du, wie Mütter und Großmütter ihre Familien zusammenhalten und wie oft du zu Beerdigungen gehen musst, weil ein Freund erschossen wurde oder an einer Überdosis gestorben ist. Richtet sich das Buch mehr an schwarze oder weiße Leser?

Ich wünsche mir natürlich so viele Leser wie möglich. Ich will klar und schnörkellos schreiben, damit auch Teenager meine Texte leicht lesen können. Deswegen sind sie auch eher kurz. Ich bin großer Hip-Hop-Fan und habe „Beastside“ wie ein Mixtape aufgebaut. Auf Seite 1 geht es um das Leben in Baltimore, die zweite Seite thematisiert den alltäglichen Rassismus, die „Black Lives Matter“-Bewegung und brutale Cops. 

Welchen Essay aus „Beastside“ würdest du deutschen Lesern besonders empfehlen?

Ja, lest den Text „Too poor for pop culture“, der hat mich berühmt gemacht. Danach versteht ihr hoffentlich, dass Amerika nicht nur zwischen Weißen und Schwarzen gespalten ist, sondern auch zwischen Reichen und Armen. Wo ich lebe, da können sich viele kein Smartphone oder einen Internet-Anschluss leisten. Sie sind völlig abgekoppelt vom Leben der US-Mittelschicht.

   

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