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Wie lebt es sich in einer Diktatur?

Foto: ZDF/Rico Rossival; Niclas Weber,

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Streng geregelte Bettruhe, eine Uniform, Ausgangssperre und monotone Arbeitsprozesse in einer Baracke werden zwei Wochen zum Alltag für die acht Teilnehmer des ZDFneo-Experiments „Diktator“. Sie sind zwischen 19 und 31 Jahre alt und sind sich bis zum Einzugstag völlig fremd.

Ihre Reaktionen in der Extremsituation sind ganz unterschiedlich: Schnell kristallisieren sich zwei Gruppen heraus. Die einen, die eher rebellieren und sich den Regeln widersetzen und die anderen, die das Experiment möglichst unproblematisch hinter sich bringen möchten. Die gesamte Sendung wird von den Sozialpsychologen Dr. Jonas Rees und Dr. Christine Flaßbeck begleitet.

Der Student und Modeblogger Matthias Limmer ist mit 19 Jahren der jüngste Teilnehmer im Experiment. Im echten Leben liebt er es besonders und auffällig zu sein. In den kahlen Wänden der Wohnungsbaracke muss er sich anpassen. Mit uns spricht er über seine Erfahrungen:

Im echten Leben will Matthias Limmer auffällig und individuell sein.

Matthias Limmer

jetzt: Was ist für dich denn gutes Leben?

Matthias: Wenn man gute Freunde hat! Ich finde loyale und enge Beziehungen zu Menschen unheimlich wichtig. Und das zu machen, worauf ich Lust habe. Mich individuell verhalten zu können und kreative Aufgaben zu bewältigen. Wenn ich Menschen mit negativer Grundstimmung um mich habe, zieht mich das enorm runter.

Was hat dich dazu gebracht, freiwillig am Experiment „Diktator“ teilzunehmen?

Dazu muss ich etwas ausholen: In der Motto-Woche im Abi habe ich mein erstes Selbstexperiment gewagt. Unter dem Motto „Länder und Nationen“ bin ich einen Tag verhüllt in Burka in die Schule gegangen und habe diese Erfahrung auf meinem Blog festgehalten. Damit habe ich dann sogar medial große Aufmerksamkeit bekommen. Als mich das ZDF dann für diesen Job anschrieb, habe ich direkt zugesagt. Es war dann eine neue Herausforderung, ein Selbsttest, den ich unbedingt ausprobieren wollte.

War das nur ein Spiel für dich?

Ich hatte ja nur eine theoretische Vorstellung von einer Diktatur: Eine Mischung aus Texten aus dem Geschichtsbuch und aus Nachrichten über die politischen Lage in Nordkorea. Mit der Realität kann man das Experiment überhaupt nicht vergleichen. Und reale Verhältnisse sind darin auch nicht abbildbar. In dem Experiment ist mir aber aufgefallen, dass – obwohl ich persönlich mit Autoritäten gar nicht klar komme – es sicher Menschen gibt, denen eine Führungsposition auch Halt geben kann. Wie auch das „Gleichsein“. Es gibt keine Statussymbole, Menschen können sich damit nicht profilieren. Das gilt aber nur für das Experiment.

Ihr habt tagsüber Aufgaben bekommen. Die Männer mussten backen und die Frauen für „das Volk“ bügeln. Wie hast du die Geschlechtertrennung empfunden?

Ich fand die soziale Isolation allgemein schlimm. Als wir in den Sperrstunden alleine auf die kahlen, trostlosen Zimmer mussten. Die Trennung während der Arbeit hat mir ein Sortiergefühl gegeben. Und als homosexueller Mann konnte ich mich auch nicht richtig mit einer der beiden Kategorien, also „weiblich“ oder „männlich“ identifizieren. Es war aber klar, dass ich während der Arbeit zu den Männern musste. Dass das einfach vorausgesetzt wurde, hat mich gestört.

"Es fühlt sich an, als würdest du nicht existieren"

Ihr hattet kein Tageslicht, keine Uhr, nichts, was den Alltag irgendwie strukturiert. Wie schlimm war das?

Es war die Hölle! Die Fenster waren abgeklebt und es schien nur etwas Tageslicht ins Zimmer. Ansonsten sah man aber nichts von der Außenwelt. Dir fehlt das Zeitgefühl. Das klingt krass, aber es fühlt sich an, als würdest du nicht existieren. Dann hockst du Stunden alleine auf deinem Zimmer, zwischen den hohen weißen Wänden und weißt nicht, wie du dich beschäftigen sollst. Irgendwann kommt dir dann der Einfall: Ach, mit dir selbst. Aber mach das erst mal. Deine Gedanken spielen völlig verrückt. Du kannst nicht spontan deine Freunde treffen, dich ablenken, nicht mal raus und wenn es nur um die Ecke zum Bäcker ist.

Man sagt ja immer Extrembedingungen schweißen zusammen: Hast du in diesem Experiment Freunde fürs Leben gefunden?

Absolut. Wir haben uns ja ganz anders kennengelernt. Wir konnten uns nicht genieren: hatten keine Statussymbole, Schminke, Schmuck oder schöne Klamotten. Und selbst Deo hatten wir nicht. Irgendwann haben wir leider alle angefangen unangenehm zu riechen. Man musste den Anderen echt so nehmen, wie er ist. Und dann war die Zeit im Gemeinschaftsraum ja auch unsere einzige Unterhaltung. Der Raum war kahl, grau, unspektakulär. Das einzig Spannende waren also die anderen Teilnehmer, wodurch du dich viel intensiver mit ihnen beschäftigt hast.

diktator 2

Die Diktatur-Teilnehmer in ihrer Uniform.

Foto: ZDF/ Rico Rossival; Niclas Weber,

Ihr seid ja alle sehr unterschiedliche Charaktere. Hättet ihr euch in der Realität auch angefreundet?

Ich glaube nicht, dass wir uns unvoreingenommen gegenübergestanden hätten. Chihan, einer der anderen Teilnehmer, ist zum Beispiel sehr traditionell und konservativ. Er wäre mir vermutlich nicht so offen gegenübergetreten, wie in diesem Experiment. Und ich hätte ihn wahrscheinlich auch viel zu schnell verurteilt und einfach angenommen, dass er ein intoleranter Mensch ist. Jemand, der meinen Lebensstil nicht akzeptieren würde. In dem Experiment mussten wir uns von den ganzen Vorurteilen freimachen. So sind wir zu einer tollen Gemeinschaft geworden. Ich glaube, wir haben daraus alle was mitgenommen.

 

"Wir haben ständig darüber diskutiert, ob wir rebellieren oder uns doch lieber an die Regeln halten sollen"

 

Dein Besitz im Experiment war überschaubar: Zahnbürste, Duschgel, Uniform. Wie ist das, wenn es auf Bedürfnisse keine Antworten mehr gibt?

Dieses „Gleichsein“ ist schlimm! Man wird verrückt! Zum Ende hin haben wir Kugelschreiber aus dem Prüfungsraum geklaut, die Plakate in den Zimmern abgerissen und darauf rumgemalt. Das war sehr befreiend! Dass man mal was Eigenes hatte. Oder, wenn wir mal irgend etwas anders gemacht haben, um von diesem „Gleichsein“ wegzukommen. Wie den obersten Knopf vom Hemd aufzulassen, dann fühlt sich das im ersten Moment gut an. Im Zweiten wurden wir dafür aber bestraft. Wenn man das auf die Realität überträgt, ist das natürlich alles viel schlimmer! Dass Menschen nie eine Wahl hatten, weil es einfach keine Antworten gibt. Ich glaube, jeder Mensch hat Bedürfnisse – und jeder Mensch sollte Bedürfnisse haben dürfen!

 

Ist euch nie in den Sinn gekommen auszubrechen oder die Diktatur zu sabotieren?

Wir haben ständig darüber diskutiert, ob wir rebellieren oder uns doch lieber an die Regeln halten sollen. Wir haben rumphilosophiert: Wenn wir uns einstimmig gegen eine Diktatur entscheiden, kommen wir dann in eine Anarchie? Oder in eine Demokratie? Das waren die Fragen, die wir uns gestellt haben. Irgendwann haben wir sogar mal nach einem Ausgang gesucht – natürlich vergeblich!

 

Was ist dir durch das Experiment bewusst geworden?

Wie einfach es ist eine Gruppendynamik zu beeinflussen. Unruhen zu stiften, Intrigen zu spinnen – eine Gemeinschaft auseinanderzubringen. Eine wirklich gut funktionierende Gesellschaft zu zerbrechen. Wenn man mich jetzt fragt, kann ich mir vorstellen, dass es gar nicht so schwer ist, eine Diktatur zu etablieren. Und wie wichtig und besonders Grundrechte wie die Persönlichkeitsentfaltung und Versammlungsfreiheit sind. Ich habe das richtig zu schätzen gelernt!

 

Würdest du das noch mal machen?

Sofort. Es war ein bisschen wie eine Therapie für mich. Ich habe viel über mich selbst gelernt. Außerdem hat sich meine grobe Vorstellung von einer Diktatur etwas erweitert. Darüber wie schlimm eine Diktatur ist!

 

Glaubst du, dass Menschen Diktatoren wie Kim Jong Un wirklich verehren können, wie die nordkoreanische Propaganda ständig behauptet?

Ich glaube, dass Menschen in solchen Ländern gleichgeschaltet werden. Sie haben keine Wahl. Stecken in einer Art Korsett und sind enormen Druck ausgesetzt. Haben Angst. Auf diesem Hintergrund verehren sie ihn vielleicht.

 "Wer hat die Macht" strahlt ZDFneo ab Sonntag, 23. April um 22.45 Uhr als vierteiliges "Social Factual" aus. 

 

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