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Oans, zwoa, g'suffa!

Illustration: Federico Delfrati

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Bierleichen, Kotzhügel, Notarzteinsatz – jeder hat die Bilder im Kopf. Mehr Beschreibung braucht es nicht angesichts hunderttausender Besoffener und einer Stadt im alkoholischen Ausnahmezustand. Man kann dieses Volksfest super finden oder abartig, eines ist klar: Die Wiesn ist der unübersehbare Beweis, dass Alkohol in unserer Kultur immer noch Droge Nummer eins ist. Und gleichzeitig auf bieder geschminkt wird, um nicht aufzufallen. Er ist der Elefant im Raum, den alle sehen, aber keiner anerkennen will. Weil wir den Rausch immer noch nicht als Teil von uns akzeptiert haben. 

Umso ignoranter, da der bayerisch inszenierte Massenrausch doch weltweit gefeiert wird. Längst ist das Oktoberfest ein Exportschlager, mit Kopien in Qingdao (China, 3 Mio. Besucher), Cincinnati (USA, 500.000 Besucher) oder ausgerechnet Hannover (900.000 Besucher). Wenig überraschend, dass nicht das Brauchtum oder die Kulisse der wunderschönen Stadt München, sondern die kollektive Druckbetankung auf der ganzen Welt Freunde findet. Die Wiesn ist die Besäufnis gewordene Globalisierung.

Dazu erzählen die einen was von familienfreundlichem Volksfest, die anderen von Tradition. Sicher nicht falsch. Den meisten Wiesn-Besuchern, in München und weltweit, geht es aber um reines Wirkungstrinken. Und zwar sowohl körperlich, im Sinne eines Vollrausches, als auch sozial. Denn jede Mass ist ein Statussymbol, zumal auf den teureren Plätzen, im richtigen Zelt in der richtigen Tracht mit den richtigen Leuten genossen. Anders als im ironischen Understatement unseres Alltags gilt hier kein „weniger ist mehr“, im Gegenteil. So wie das restliche Jahr über alles kuratiert und exklusiv sein muss, muss auf der Wiesn alles im XXL-Format in sich reingeschoben werden, ohne Rücksicht auf Ästhetik oder Anspruch.

Dem König Alkohol wird hier also in einer seiner urwüchsigsten Formen gehuldigt. Denn entgegen aller Gesundheitstrends und Achtsamkeitswellen wird sich auf der Wiesn zu 99 Prozent mit dem eigens gebrauten Wiesn-Bier behackt, einer etwas stärkeren Form des bayerischen Hellen. Und zwar, das gehört zur Corporate Identity des Oktoberfestes wie Blasmusik und Hendl, ausschließlich literweise. Mögen ansonsten elaborierte Craftbiere aus Mikrobrauereien gehoben werden, Clean Eating und Superfoods die Speisepläne übernehmen – einmal im Jahr kippt auch die Yoga-gestählte Jurastudentin das Massenprodukt aus dem Maximalgebinde.

Es scheint ein zunehmendes Grundbedürfnis des Menschen zu sein, sich kollektiv auszuknipsen

Die Wiesn wird damit mehr und mehr zum Negativ unseres Alltags. Eine uniforme, aber umso lautere Rebellion wider die Selbstoptimierung. Zwar rattern hinter allen Bühnen und Schankflächen die Zahnräder des Kapitalismus, wenn von der Romantik-Rikscha bis zum Wiesn-Hit alles kommerzialisiert wird. Und doch bricht der Besucher hier aus seinem Dasein als Arbeitnehmer oder Familienmensch aus. Es scheint ein eher zu- denn abnehmendes Grundbedürfnis des Menschen zu sein, sich kollektiv auszuknipsen. Auf den moralischen Überbau zu pfeifen und den niederen Trieben nachzugeben.

Und genau hierin liegt die Verlogenheit. Denn sei sie nun durch schamanistische Rituale, Rockkonzerte oder Starkbier herbeigeführt – die Flucht aus dem Korsett unserer Existenz als Autofahrer, Eltern, Vorbilder, Staatsbürger ist das Yang zum Ying unserer aufgeklärten Zeit. Früher waren zwar alle noch viel öfter besoffen. Aber je weniger wir uns die Köpfe einschlagen, desto mehr müssen wir unseren eigenen Kopf von Zeit zu Zeit weichmachen. Es gilt also einen Ausgleich zu finden für unsere ausgeglichene Lebensweise. Der Rausch ist ein Ventil. Je mehr Druck, desto dringender brauchen wir es.

In der Lebenspraxis der allermeisten Konsumenten bedeuten solche Räusche, so hässlich sie von außen auch aussehen mögen, eben nicht, dass sie ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen. Sondern eher, dass sie ihr Leben vielleicht ein bisschen zu sehr auf die Reihe kriegen. Aber statt endlich zu akzeptieren, dass der Rausch zum Menschen gehört wie die Liebe oder der Tod, kleben wir auf die Ausraster dünne Etiketten wie „Wiesn-Abend mit den Arbeitskollegen“ oder „Italiener-Wochenende“. Was ja auch nur bedeutet, dass sich eine bestimmte Gruppe gemeinsam wegbrennt. Weil es geht, weil es Spaß macht, weil es guttut. 

So lange wir aber einen quadratkilometergroßen sozialen Darkroom brauchen, um auszuleben, was niemals ein Geheimnis war, so lange werden wir als Gesellschaft und Einzelne daran zu leiden haben. Denn so lange können auch Süchte, Aggressionen und Missbrauch nie wirklich offen thematisiert werden

Das Recht auf Rausch existiert. Das Recht auf Rauschverklärung allerdings nicht. „Die Wiesn ist die größte offene Drogenszene der Welt“, sagte der bayerische Grünen-Chef Dieter Janecek einmal der Huffington Post. Er hat Recht. Das wäre gar nicht so schlimm. Wenn wir nur endlich ehrlich damit wären.

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