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Nieder mit dem Sektempfang!

Illustration: Federico Delfrati

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Die Alkolumne handelt vom Trinken. Von den schönen und schlechten Seiten dieses Zeitvertreibs und den kleinen Beobachtungen und Phänomenen an der Bar. Aber egal, worum es grade geht, lieber Leser – bitte immer dran denken: Ist ungesund und kann gefährlich sein, dieser Alkohol.

Warten nervt. Das ist Konsens. Trotzdem gibt es eine Form des Wartens, die – warum auch immer –  als fester Bestandteil jeder Feier mit förmlichem Anstrich gilt: der gottverdammte Sektempfang. Eine Feiergesellschaft MUSS bei einer Hochzeit, einem Firmenevent oder einer Zeugnisverleihung, bevor sie endlich richtig feiern, essen, saufen kann, immer erst mit lauwarmem Sekt und Häppchengedöns rumstehen. Und das, obwohl für die künstliche Wartephase keinerlei Bedarf bestünde. Ich fordere: Bahn frei zum tatsächlichen Gelage, nieder mit dem Sektempfang! Wir haben nichts zu verlieren außer Proseccoflöten!

Für ältere Herrschaften ist der Empfang Normalität, das war schon immer so, da ist der Zug abgefahren. Die planen ihre Feste am sogenannten Reißbrett und unterbinden von Tischkarte bis Serviettenfaltung jede Spontaneität. Umso erschreckender ist es, dass unsere Generation das hohle Dekadenzritual vollkommen unreflektiert übernimmt. Natürlich gibt es auch die „normalen“ Feste mit Bierflaschenbadewanne und Küchenrave. Aber selbst bei Anlässen wie Wohnblock-Hofpartys, Vernissagen oder Hochzeiten von Menschen, denen man ansonsten maximale Unverkrampftheit unterstellen dürfte, die auf Pfarrer, weiße Kleider, Reden und Viergängemenüs demonstrativ pfeifen – plötzlich beugen sie sich dem offenbar vorhandenen Zwang, den eigentlichen Spaß durch eine tantraartige Sektrunde zu verzögern . Obwohl absolut niemand danach gefragt hat!

Warum erhalten wir diese überkommene Zwischenstation auf dem Weg in den Exzess?

Und das, obwohl wir uns der Dämlichkeit des Ganzen bewusst sind: Wenn wir da kurz vor Essen und Feierei noch unmotiviert in Grüppchen herumstehen und möglicherweise auch noch von gleichaltrigen Caterern betüddelt werden, sagen wir ironisch „Stößchen!“ – und vergewissern uns gegenseitig, dass das hier gerade ja nicht wirklich unsere Art ist. Ich frage mich: Warum machen wir es dann noch? Warum feiern viele ihre ehemals verspießten Feste mittlerweile so lässig, dass man selbst als radikaler Traditionsverächter direkt mitheiraten will, erhalten aber diese überkommene Zwischenstation auf dem Weg in den Exzess?

Der Sektempfang stammt aus einer Zeit, in der es als lässig galt, sonntags zum Frühstücksbüffet im Dachrestaurant des nächsten Kaufhauses zu tigern, bei Festen zu Discofox von DJ-Animateuren zu „tanzen“ und die Käsespießchen der Schwiegertochter zu loben. Trotzdem halten wir ihn künstlich am Leben. Ungeduldige Pioniere, die sich in der Sektphase am noch nicht eröffneten Büffet vergreifen oder – ganz schlimm – schon mal einen ordentlichen Drink bestellen, werden gnadenlos abgestraft mit Kommentaren wie: „Hoppala, da kann es einer wohl kaum erwarten! Schon beim harten Stoff angekommen?“

Vielleicht reichen eben die Häppchen nicht aus, wenn man schon mal Hunger hat? Vielleicht will man lieber gleich was Anständiges und nicht dreißig Lachsbrötchen mit einem Durchmesser von zwei Zentimetern in sich reinstopfen? Steht doch alles schon da! Oder, ganz simpel: Vielleicht mag man einfach keinen Sekt? Wer unter 35 trinkt bitte noch Prosecco, Muntermacher von 90er-Schwiegereltern, außer bei diesen Empfängen?

Der absolute Sekt-GAU ist wiederum der, bei dem ein anschließendes Fest gar nicht erst geplant ist. Manchmal steht der Schrecken des Empfangs nämlich komplett für sich, zum Beispiel, wenn eine entfernte Kollegin aus Abteilung XY Abschied feiert. Da wird dann frühnachmittags im Neonlicht mit wildfremden Menschen angestoßen, fünf Minuten lang zwangsgesmalltalkt, gewartet auf irgendwas, das nicht kommt. Und dann schleichen sich mit einigen Minuten Abstand alle wieder zurück an den Schreibtisch, weil „man ja auch echt noch viel schaffen muss“ heute.

Es ist an der Zeit, den Sektlemmingen eine Lektion zu erteilen

Der Zwang zum Warten, Sekttrinken, Homöopathendosen-Snacks-vertilgen trägt autoritäre Züge. Frauen, die aus Sekt-Unlust nach einem Glas Orangensaft greifen, das – hier auch ein großes Fragezeichen – als einzige Alternative zum Blubbergesöff zur Verfügung steht, werden sofort der Schwangerschaft verdächtigt. Männer dagegen des Luschentums. Das ist lächerlich und übergriffig.

Es ist an der Zeit, den Sektlemmingen eine Lektion zu erteilen, Traditionen sind schließlich nicht mehr als die Illusion von Selbstverständlichkeit. Deswegen, Brüder und Schwestern, setzt ein Zeichen! Sucht euch Verbündete, bildet Banden – und fackelt die Stehtische ab!

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