Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

„Herzlichen Glückwunsch zum Haus!“

Illustration: Melanie Kreiss

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Der Brief meines Vaters an mich beginnt mit den Worten „Wenn es mich zerrissen hat, sollte das der Fahrplan sein, um mein Leben abzuwickeln.“ Und er endet mit „Machet jood!“. Dazwischen zählt er auf, was zu tun ist. Unter anderem soll ich mich schleunigst mit seinem Finanzberater in Verbindung setzen: Herr S. Draußen zwitschern die ersten Vögel im Garten meiner Großeltern, es wird langsam Frühling. Mein Vater ist gestern Abend um 21 Uhr im Uni-Klinikum Frankfurt gestorben, Lungenkrebs. Wie gern würde ich jetzt mit ihm eine rauchen, das würde mich beruhigen. 

Ich bin in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Meine Eltern sind mit mir nie in den Urlaub gefahren, wirklich nie. Ich habe meine Mitschüler als Teenager um ihre Markenklamotten beneidet und später meine Mitstudenten um ihre Rucksackreisen durch Asien. Ich bin während meines Studiums nie weggefahren. Ich habe durchgehend gekellnert oder in den Semesterferien Praktika gemacht. An schlechten Tagen habe ich mir immer ausgemalt, was ich mir alles kaufen würde, wenn ich plötzlich im Lotto gewänne: Echte Louboutins, eine Chanel-Tasche, Klamotten von dänischen Hipster-Designern, First-Class-Tickets nach Asien, Zimmer in Banyan Tree-Hotels, regelmäßige Friseurbesuche.

Das alles geht mir durch den Kopf, als ich bei Herrn S. sitze und auf den grauen Teppich mit Rautenmuster starre. Herr S. erklärt mir die finanzielle Situation meines Vaters. Er muss langsam sprechen: Von den Zahlen, mit denen er um sich wirft, wird mir schwindelig. Ich bin die alleinige Erbin einer Doppelhaushalte mit Garten und Doppelgarage, die mein Vater zehn Jahre zuvor gekauft hat. Das Haus ist pi mal Daumen 350.000 Euro wert, sagt Herr S. Das sind viele First-Class-Tickets nach Bangkok und noch mehr Chanel-Handtaschen. Das Blöde ist allerdings: Mein Vater hat das Haus noch nicht abbezahlt, er schuldet der Bank noch 214.618,56 Euro plus Zinsen. Bedeutet: Ich schulde der Bank jetzt 214.618,56 Euro plus Zinsen. Herr S. fragt, was ich jetzt machen möchte. Ich könnte das Haus an die Bank zurückgeben und hätte dann immerhin ungefähr 140.000 Euro. Das sind immer noch genug Handtaschen, Schuhe und Reisen. Oder ich übernehme die Kredite und zahle sie weiter ab. Dann gehört das Haus in 18 Jahren mir. Ich bin überfordert.

Ich hatte noch nie Schulden, ich habe mein Konto noch nie überzogen. Allein der Gedanke, Schulden zu haben, jagt mir Quaddeln über die Arme und schnürt mir die Kehle zu. Und dann auch noch über 200.000 Euro? Es ist schon anstrengend genug, den Nachlass eines verstorbenen Elternteils zu sortieren, die Beerdigung zu organisieren, Verpflichtungen wie Versicherungen oder Zeitungsabos zu kündigen. Von der grauenvollen Leere, die mein Vater durch seinen Tod hinterlassen hat, will ich gar nicht reden. Das macht ein so großes Fass auf, diese Dimension ist mit Worten gar nicht beschreibbar. Dann auch noch eine so weitreichende Entscheidung für meine Zukunft zu treffen, das ist schier unvorstellbar. Aber ich muss. Ach, was würde ich gerne mit meinem Vater eine Zigarette rauchen.

Schneller Luxus – oder zumindest ein geldsorgenfreies Leben – für einen absehbaren Zeitraum? Oder langfristig eine Altersvorsorge aufbauen? Mein Beruf ist nicht gerade darauf ausgelegt, fette Jahresboni zu kassieren. Die Rente meiner Generation ist ungewiss. In der Stadt, in der ich lebe, könnte ich niemals eine Eigentumswohnung kaufen. Jedenfalls nicht da, wo ich wohnen möchte. Eigentlich gar nicht so schlecht, dass sich theoretisch da jemand anders schon Gedanken gemacht hat: mein Vater. Grundstück suchen, Haus bauen, Notar-Gedöns, alles schon erledigt. Ich muss nur noch den Geldbeutel aufmachen, denke ich. Ich entscheide mich also für die Sicherheit und behalte das Haus.

Wenn ich jetzt die Webseite meiner Bank öffne, um meine Kontostände zu checken, blinkt mir konstant eine rote Zahl entgegen. Über 200.000 Euro im Minus, das ist viel zu abstrakt, um es zu kapieren. Aber ich fasse einen Plan. Ich selbst möchte nie in diesem Haus, geschweige denn in diesem Dorf wohnen, ich vermiete alles an eine vierköpfige Familie, die Schmidts.

 

Sie sind sehr nett, haben eine Katze: Freddy. Mit ihrer Miete zahle ich die Kredite ab. Erst waren es vier separate Darlehen, jetzt sind es zwei. Drei konnte ich auf ein Neues umschulden, einen Kreditvertrag musste ich unverändert behalten. Auch das gehört plötzlich zu meinem Leben dazu: sich mit Finanzscheiße auskennen. Besitz verpflichtet – dazu, sich mit daran geknüpftem Wissen zu befassen. Das ist hartes Googeln und noch mehr Rumfragen, denn ich habe am Anfang keine Ahnung, was gute und was schlechte Konditionen sind.

 

Einer der Kredite ist zum Beispiel von der ‚Kreditanstalt für Wiederaufbau‘. Da legt man sich zu Beginn fix auf die Laufzeit und den Zinssatz fest, das ist dann in Stein gemeißelt, egal wie sich die weltweiten Finanzmärkte entwickeln. Das Darlehen meines Vaters ist mit 2,6 Prozent verzinst. Das ist für aktuelle Verhältnisse ziemlich viel, damals war das ein Spottpreis. Man kann im Moment Kredite für um die 1 Prozent bekommen. Das hilft mir aber nichts, das bleibt jetzt erstmal so. Genaugenommen bis 2023. Als mein Vater 2014 stirbt, sind das noch fast zehn Jahre, da kotzt das Herz und das Konto. Ändern kann ich es aber nicht.

 

Innerhalb weniger Wochen werde ich zur Kredit- und Anlagespezialistin. Zumindest wird aus meiner laienhaften Ahnung plötzlich echtes Wissen. Die Unsicherheit werde ich trotzdem nicht los. Herr S. von der Sparkasse ist zwar sehr nett, aber er ist ein Banker – das sind doch alles Schweine, oder? Kann mich diese Doppelhaushälfte in den Ruin treiben? Die Antwort ist einfach: Ja, kann sie. Das erhoffte Gefühl der Sicherheit will sich erstmal nicht einstellen. Im Gegenteil: Würden die Schmidts mit ihrer Katze Freddy ausziehen und das Haus leerstehen, müsste ich monatlich 1087,88 Euro aus dem Hut zaubern. Das ist der exakte Betrag, der regelmäßig abgebucht wird. Rein kommen genau 1250 Euro plus 70 Euro Nebenkosten. Da bleibt am Ende des Jahres nicht viel übrig, da darf nichts passieren. Zumindest nichts, was meine Feuer- oder Grundstückshaftpflichtversicherung nicht abdeckt. Tut es natürlich doch: Gleich im ersten Winter reißt der Wind den hölzernen Sichtschutz zum Nachbarn um und aus der Betonverankerung. Vom Dach fliegen Ziegel. Kosten für alles zusammen: 2000 Euro. Bäm!

 

Was mir am Anfang durch den schweren Schleier aus Trauer gar nicht möglich war zu fühlen, ist Verantwortung. Das tue ich jetzt umso mehr. 2000 Euro tun weh, aber ich bin froh, dass keines der Kinder einen Dachziegel auf den Kopf bekommen hat. Ich nehme den Betrag von meinem Ersparten, eigentlich wollte ich davon in den Urlaub fahren. Besitz ist verbunden mit Gewissenhaftigkeit und Pflichtgefühl. Darüber hatte ich mir im Büro von Herrn S. damals keine Gedanken gemacht. Ich habe nur abgewogen zwischen schnellem Luxus und Sicherheit. Meine Entscheidung bereue ich dennoch nicht. Ich hoffe nur, dass ich auch etwas von meiner Altersvorsorge habe und nicht so früh sterbe wie mein Vater mit Anfang 50. Deshalb habe ich aufgehört zu rauchen. Ohne Papa beruhigt das eh nicht mehr so gut wie früher. Machet jood!

 

Und hier gibts noch mehr zum Thema Besitz:

  • teilen
  • schließen