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Die Münchner*innen brauchen ein Corona-Update

Collage: Daniela Rudolf-Lübke / Fotos: unsplash / dpa / imago / Alessandra Schellnegger

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So ungewiss diese Zeiten sind, so schnell alles, was wir wissen, während Corona-Pandemie plötzlich nichtig ist, so gab es während dieser Pandemie eine Konstante: München war, was die Corona-Fallzahlen betrifft, im deutschlandweiten Ranking immer ganz oben mit dabei. So hatte die Stadt in der vergangenen Wochen mehrfach die kritische Zahl von 50 täglichen Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner*innen überschritten, weshalb es seit vergangenem Donnerstag strengere Corona-Regeln gibt.

Die Nähe zu Österreich und Italien, München als beliebtes Ausflugs- und Reiseziel, die generell hohen Werte in Süddeutschland und der internationale Wirtschaftsstandort? Niemand scheint bislang genau zu wissen, warum München von der Pandemie stärker betroffen ist als Hamburg, Berlin oder Leipzig. Doch es gibt einen Faktor, den Wissenschaft und Politik bislang komplett unbeachtet gelassen haben: die Münchner*innen an sich. So sehr wir Münchner*innen uns selbst mögen, vielleicht ist es an der Zeit, einige Charaktereigenschaften grundlegend zu verändern. Zumindest, bis die Pandemie überstanden ist.

Die Bussi-Bussi Gesellschaft

Ein kühler Handschlag, ein kaum sichtbares, nordisches Nicken, ein freundlicher Klaps auf die Schulter. So begrüßt man sich in München nicht. Münchner*innen zeigen schon mit der ersten Begrüßung, dass sie von der Seele und vom Herzen her deutlich näher an Rom, Barcelona und Paris liegen, als an Hamburg, Berlin und Köln. Hier begrüßt man sich mit Küsschen links und Küsschen rechts. Doch in diesen Zeiten könnte nichts unpassender sein, als Fremden zur Begrüßung zweimal sämtliche Aerosole aus nächster Nähe in Richtung Mund und Nase zu hauchen. Wenn Münchner*innen sich dennoch von den restlichen Deutschen abgrenzen wollen, dann vielleicht doch besser mit einer japanischen Verbeugung.

Der Mensch von Welt

Diese Selbstsicht als Kosmopolit*innen, als Bürger*innen von Welt, die mit einem Teil der Gedanken rund um die Uhr in Italien hängen und zumindest mental das Dolcefarniente pflegen, führt auch zu einer Verhaltensweise, die während der Corona-Pandemie zurückgeschraubt werden sollte. Denn dieses ständige mentale Exil führt dazu, dass wir Münchner*innen die erste Gelegenheit nutzen, um unsere Koffer zu packen und tatsächlich mit dem Auto in Richtung Süden fahren. Alleine ein Blick auf die Homepage der Stadt München zeigt, wie stark die Sehnsucht nach Italien ist: Zum einen gibt es Tipps, wie man am besten während der Corona-Pandemie nach Italien reist, aber natürlich auch, wie Münchner*innen Italien in der eigenen Stadt erleben (Überraschung: Aperol Spritz in einer Bar trinken und Pasta essen gehen).  So schön offene Grenzen und der Hang zum Weltbürgertum sind, so schädlich ist das für die Gemeinschaft während einer globalen Pandemie. Wer reist, ist automatisch mehr unter fremden Menschen und macht so die Nachverfolgung möglicher Infektionsketten deutlich komplizierter. Sowohl in München als auch im Urlaubsziel.

Die Wiesn-Sucht

Hach ja, die Wiesn. Relativ früh konnten die Münchner*innen sich darauf einstellen, dass das größte Volksfest der Welt nicht stattfinden würde. Schon im April wurde das Oktoberfest abgesagt. Das Verlustgefühl konnte so zwar gelindert werden, geheilt ist es allerdings nicht. Das zeigte sich nicht nur daran, dass am Wochenende des eigentlichen Wiesn-Starts ungewöhnlich viele Menschen in Tracht durch Münchens Straßen zogen, sondern auch daran, dass Biergärten und Wirtshäuser vollkommen überlaufen waren. So überlaufen, dass an vielen Orten die Einhaltung des Mindestabstands oder sonstiger Hygienekonzepte nicht mal im Ansatz möglich gewesen wären. Und auch private Wiesn-Anstiche wurden in Wohnungen in der ganzen Stadt gefeiert, was man gut von der Straße aus auf Balkonen und vom Handybildschirm auf Instagram beobachten konnte. Inklusive Wiesnhits vom Band und mächtig Geschunkel. Doch leider ist alles, wofür die Wiesn steht, genau das, was man in diesen Zeiten unterlassen sollte: Menschenmassen, dicht gedrängt, Arm in Arm, die Aerosole sich aus dem Leib grölend, aus schlecht gespülten Bierkrügen trinkend und hemmungslos herumknutschend. Nicht ohne Grund legt jedes Jahr die Wiesngrippe die halbe Stadt lahm. Nicht auszumalen, was dieses Jahr nach der Wiesn passiert wäre. Deswegen muss die Wiesn-Sucht leider gezähmt und private Feiern nicht als Oktoberfest-Methadon genutzt werden.

Sehen und gesehen werden

Die Münchner*innen an sich zeigen sich gerne. Ob bei der Theaterpremiere, der Vernissage, im Club oder einfach beim Einkaufen im Supermarkt. Die sauberen Straßen Münchens sind unser Laufsteg. Der Pfau als Spiritanimal. Aber so gern man doch gesehen wird: Während Corona muss in der Öffentlichkeit das halbe Gesicht bedeckt sein. Ab Donnerstag auch noch beim Einkaufen am Marienplatz, in der Kaufingerstraße und am Viktualienmarkt. So schwer es fällt, aber die Maske muss oben bleiben. Wem es bei dieser Vorstellung noch immer das Herz zerreißt, der kann sich ja die eigene untere Gesichtshälfte auf seine Maske drucken lassen

Der Lokalpatriotismus

Münchner*innen lieben ihre Stadt. Deshalb ziehen sie weg und erzählen anderen, wie schön es hier ist. Die Konsequenz: München ist die am dichtesten besiedelte Stadt Deutschlands. 4777 Menschen teilten sich 2019 im Schnitt einen Quadratkilometer der bayerischen Landeshauptstadt. Tendenz steigend. Zum Vergleich: In Berlin waren es 4118, in Hamburg nur 2446. Doch gerade während der Pandemie sind dicht besiedelte Gebiete besonders anfällig dafür, Hotspots zu werden. Das zeigt nicht zuletzt der heftige Verlauf, den New York erlebte. Doch warum sollte man die schönste Stadt Bayerns, Deutschlands, ja gar der Welt, verlassen? Klar, der Schritt ist schwer, aber ein paar Leute müssen einfach in den sauren Apfel beißen und, naja, nach Freising oder Ingolstadt ziehen. Nicht, weil sie München nicht mehr lieben, sondern gerade deswegen. Oder wir müssen zumindest aufhören, den Lokalstolz ganz so sehr nach draußen zu tragen, um andere von dieser Stadt zu überzeugen.

Das Münchner Selbstvertrauen

Mia san mia, mia san stärker wia die Stier. Die Münchner*innen haut so leicht nichts um. Außer eine Pandemie halt. Und so sehr das Selbstvertrauen und das Sieger-Gen in den Münchner*innen verpflanzt ist und sie immer nach der Nummer Eins streben: Im Fußball, in der Lebensqualität, bei den Lebenshaltungskosten, beim Mietpreis pro Quadratmeter oder im Kampf um das erste deutsche Fotomotiv. So gern wir Münchner*innen die Nummer eins sein wollen – vielleicht können wir anderen bei Infektionszahlen mal den Vortritt lassen. 

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