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„Meine Brüste müssen gehen, dafür darf ich bleiben“

Fotos: Alexandra Stanic

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Julia streicht sich ihre lockigen Haare aus dem Gesicht. Sie reichen ihr nur bis zum Kinn, trotzdem muss sie sie ständig zurechtzupfen. Julia wirkt entspannt und fröhlich, wie jemand, der ein unbeschwertes Leben führt. Während die 29-jährige Österreicherin spricht, lacht sie viel und laut und gestikuliert wild mit ihren Händen. Sie lacht noch lauter auf, wenn sie sich verhaspelt oder wenn ihr eine ihrer Locken wieder die Sicht versperrt. Eine fröhliche Frau. Eine Optimistin, wie sie sich selbst nennt. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, wird Julia wegen der Chemo-Therapie keine Haare mehr haben. Statt ihrer Locken richtet sie sich während der Unterhaltung ein buntes Tuch, das ihren Kopf ziert, zurecht.

Aber von Anfang an. Anlässlich des Breastcancer Awareness Months im Oktober 2017 starte ich einen Aufruf: Ich bin auf der Suche nach Frauen, die Brustkrebs haben oder hatten, um sie zu interviewen und zu fotografieren. Ich möchte Bewusstsein schaffen. Denn Brustkrebs ist die häufigste Krebserkrankung bei Frauen. Sie macht etwa 30,5 Prozent der Krebsfälle bei Frauen in allen Staaten der industrialisierten Welt aus, heißt es in einem Bericht der Deutschen Krebsgesellschaft aus dem Jahr 2017. Etwa 69.000 Diagnosen und 17.850 Todesfälle gibt es jährlich. 

Auch Julia will, dass das Thema stärker wahrgenommen wird. Deswegen kontaktiert sie mich, als sie meinen Aufruf sieht. Zu dieser Zeit ist Julia noch nicht an Brustkrebs erkrankt. Die Kindergärtnerin hat eine familiäre Vorgeschichte, ihre Mutter und ihre Großmutter erkrankten beide an Brustkrebs, ihre Oma sogar zweimal. Zunächst wurde sie brusterhaltend operiert, 13 Jahre später kam der Krebs wieder. Ihre Mutter hat sich mit 35 beide Brüste, die Gebärmutter und die Eierstöcke entfernen lassen, weil auch da ein erhöhtes Krebsrisiko bestand. Julia ist mit Brustkrebs groß geworden. Sie weiß, wie die Diagnose das Leben beeinträchtigt, hat beobachtet, welche Folgen eine Chemo hat und mit welchen Fragen man sich als Krebserkrankte beschäftigen muss.

Deswegen entscheidet sie sich mit 21 für einen Gentest. Dieser wird von der Krankenkasse übernommen, sofern ein dringender Verdacht auf Genveränderung herrscht – das ist bei Julia der Fall. Nach zweimonatiger Wartezeit wird ihr in einem Gespräch mit einer Ärztin und einer Psychologin verkündet, dass sie die Genveränderung BRCA1 hat. Laut ihrem Befund liegt das Brustkrebsrisiko in der österreichischen Durchschnittsbevölkerung bei 12 Prozent, durch die Mutation BRCA1 erhöht sich dieses auf 70 bis 90 Prozent.

„Das musste ich dann erst einmal sacken lassen“, erinnert sich Julia. „Mir wurde dann noch gesagt, dass ich ab 25 jährlich zur Mammografie gehen kann und mir bis dahin regelmäßig die Brüste abtasten lassen soll.“ Julia beschäftigt sich seit dem Gentest oft mit Krebs. „Es ist nicht so, dass ich immer verzweifelt deswegen war, aber man stellt sich schon viele Fragen, wenn man abends im Bett liegt“, sagt sie. „Selbst wenn ich jährlich zur Kontrolle gehe: Ein Jahr ist eine verdammt lange Zeit, da kann viel passieren.“

Die Diagnose

Vier Jahre später, November 2017. Nach einer Mammografie entdeckt die Röntgenärztin eine leichte Veränderung in Julias Brustgewebe. Ein MRT-Termin ist notwendig, daraufhin eine bioptische Abklärung. Unter Biopsie versteht man die Entnahme von Gewebe. Im Wiener Wilhelminenspital wird Julia mitgeteilt, dass es eine Woche dauert, bis der Befund fertig ist. „Nach sieben Tagen wurde ich angerufen, dass der Befund noch nicht fertig ist und ich noch eine weitere Woche warten muss“, erinnert sie sich. „Da war ich dann wirklich fertig mit meinen Nerven. Ich wusste, irgendetwas stimmt nicht.“

Zu dem Zeitpunkt spürt Julia einen Knoten in der rechten Brust, der ein paar Wochen zuvor noch nicht zu ertasten war. Die Wartezeit bis zur Diagnose beschreibt Julia als besonders hart. „Ich bin unter Dauerstrom gestanden und konnte an nichts anderes denken“, erklärt sie. „Das war auch eine schwierige Phase für meinen Partner und mich, normal weiterleben war nur schwer möglich.“ Am 1. März erhält Julia dann die Diagnose: Sie hat einen bösartigen Tumor in ihrer rechten Brust. Sie wirkt gefasst, während sie spricht. Ihre Stimme ist leiser geworden, ihre Mimik ernst. „Selbst wenn man ahnt, dass etwas nicht okay ist, trifft einen die Diagnose doch sehr.“

Von nun an muss sich Julia mit schwerwiegenden Fragen beschäftigen. „Ich hatte gar nicht wirklich Zeit, um alles zu verarbeiten, ich musste so viele Entscheidungen treffen“, erklärt sie. Eine davon war, ob sie brusterhaltend operieren möchte. „Aber nachdem meine Oma wieder Krebs bekommen hat, war für mich schnell klar, dass ich mir nach der Chemo meine Brüste abnehmen lassen werde.“

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Durch die Chemo-Therapie verlor Julia ihre Haare.

Foto: Alexandra Stanic

Selbstliebe trotz Brustkrebs

Diese Entscheidung fällt ihr nicht leicht, ihre Brüste waren Julia – anders als der Rest ihres Körpers – immer lieb. „Ich habe sehr lange an meinem Aussehen gezweifelt“, beschreibt sie ein Gefühl, das die meisten Frauen kennen. „Ich hätte alles für einen flachen Bauch und schlanke Beine gegeben, meine Rundungen haben mich einfach überfordert.“ Sie hat  enge Kleidung immer gemieden und setzte sich unter Druck, weil sie nicht so aussah, wie die Frauen im Fernsehen. Einmal traute sie sich doch, ein enges Kleid anzuziehen – an dem Tag fragte sie eine Fremde, ob sie schwanger sei. „Nie wieder habe ich dieses Kleid angezogen.“

In den vergangenen Jahren schaffte sie es durch die Body Positivity-Bewegung raus aus den Zweifeln. Sie setzte sich mit Prominenten auseinander, die nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprachen. „Schritt für Schritt habe ich mich lieben gelernt und mich in meiner Weiblichkeit wiedergefunden“, so Julia. „Und dann die Nachricht, dass ich Brustkrebs habe. Tschüss Haare, tschüss Brüste. Ironischerweise muss ich mich genau von jenen Dingen verabschieden, die ich immer an mir geliebt habe.“ Sie schüttelt den Kopf, lacht leise auf. „Diese Ironie ist schon fast lustig.“

Auch mit ihrem Kinderwunsch muss sich Julia auseinandersetzen. „Bevor die Chemo Ende März losging, musste ich meinen Fertilitätserhalt klären“, erklärt sie. Die Chemo kann sich negativ auf Julias Fruchtbarkeit auswirken. Sie hat folgende Optionen: Entweder versetzt sie sich mit monatlichen Spritzen künstlich in den Wechsel, um ihre Eierstöcke zu „schonen“, oder sie lässt sich Eizellen entfernen.

Der Besuch bei einer Kinderwunschklinik ernüchtert sie: Vor der Eizellenentnahme müssten ihre Eierstöcke stimuliert werden, damit sie mehr Eizellen produziert. Eine höhere Erfolgsrate gibt es, wenn bereits befruchtete Eizellen eingefroren werden. Dafür müssten ihr Freund und sie notariell beglaubigen lassen, dass sie zusammenbleiben werden. Sollten sie sich trennen, würden die befruchtete Eizellen vernichtet werden. „Das fand ich sehr arg, andere Paare müssen ja auch nicht sicherstellen, dass sie zusammenbleiben“, so Julia. Sie wirkt verstört. „Ich habe mich dann für die Spritzen entschieden. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, dass man die befruchteten Eizellen vernichten würde, sollten wir unsere Beziehung beenden.“

Das Leben danach

Julia hat mittlerweile die erste Hälfte ihrer Chemotherapie hinter sich gebracht. Alle drei Wochen muss sie dafür ins Krankenhaus, insgesamt sechsmal. Mitte Juli hat sie den letzten Termin. Nach den ersten Wochen beginnen ihre Haare auszufallen, am ganzen Körper, bis auf Augenbrauen und Wimpern. „Für den Sommer ist das eigentlich ganz bequem, ums Rasieren muss ich mich nicht mehr kümmern“, scherzt sie. Julia geht sehr offen mit ihrer Erkrankung um, sie spricht jedes noch so unangenehme Detail an. Nur ein Thema meidet sie in all den Gesprächen: die Angst vorm Tod. „Meine Mutter und Großmutter sind beide echte Kämpferinnen“, so Julia. „Sie haben den Krebs besiegt und ich nehme mir ein Beispiel an ihnen.“

Julia ist derzeit mit der Planung ihres Lebens nach der Chemotherapie und Operation beschäftigt. Mitte August sollen ihr die Brüste abgenommen werden. „2019 möchte ich einen Halbmarathon laufen und so bald wie möglich wieder arbeiten“, sagt sie. Die körperlichen Anstrengungen nach jeder Therapie-Einheit versucht sie mit Humor zu nehmen. Es fühle sich so an, als hätte man den längsten Kater seines Lebens, sagt sie und lacht. Dann wird sie aber doch ernst. „Mit der Übelkeit habe ich am meisten zu kämpfen. Ich habe kaum Lust etwas zu essen, es kostet oft Überwindung, etwas zu mir zu nehmen“, beschreibt sie die Situation.

Derzeit beschäftigt sie sich mit der Frage, wie sie ihre Brüste rekonstruieren lassen wird. Fremdkörper möge sie eigentlich nicht, aber eine OP mit eigenem Gewebe könne auch komplizierter sein als mit Silikonimplantaten. „Und dann wäre da noch die Nippelsache“, sagt sie und grinst wieder. „Wenn mir die Ärzte welche mit meiner Haut ‚bauen‘, stehen sie quasi immer“, erklärt sie. „Eine andere Option wäre, mir Brustwarzen tätowieren zu lassen.“  Viele offene Fragen.

Klar ist: Julia wird ihre Brüste vermissen. „Aber hey, Brüste gegen ein gesundes weiteres Leben. Diesen Tausch gehe ich gerne ein. Wer nicht?“, sagt sie. Sie freut sich auf ihre neuen Brüste. Trotzdem schwingt viel Trauer mit. „Meine Brüste müssen bald gehen. Dafür darf ich bleiben.“ 

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