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„Ich dachte früher immer, du hältst mich für einen Nazi“

Illustration von Mariella Lehner

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„Es ist nicht unsere Aufgabe, anderen Menschen zu helfen. Wir haben genug eigene Probleme“, sagt Felix* mit fester Stimme. Hinter ihm sitzen drei junge Frauen im Café, die uns verstohlene Blicke zuwerfen und zu flüstern beginnen. Auch ich bin etwas sprachlos, Hannah hingegen ergreift sofort das Wort. Sie kennt die Meinung ihres besten Freundes. „Die Probleme in Österreich sind doch kein Grund, um Flüchtlingen nicht zu helfen“, sagt die 21-Jährige und nippt an ihrem Chai Latte. Seit Jahren engagiert sich Hannah im sozialen Bereich, mitunter für Flüchtlingsprojekte. Auch dazu äußerte ihr Felix seine Bedenken. Hilfe vor Ort wäre besser und überhaupt stellten Geflüchtete eine gewisse Gefahrenquelle dar, meint der 24-Jährige. Hannah meint das nicht. Und ich bin fasziniert davon, wie diese Freundschaft seit neun Jahren bestehen kann.

Nichts spaltet Österreich gerade so sehr, wie Politik es tut. Kein Wunder, dass politische Diskussionen unter Freunden vermieden und Differenzen nicht ausgesprochen werden. In meinem sozialen Umfeld kann ich die Personen, die meine politische Einstellung nicht teilen, an einer Hand abzählen. Auch ich bin hitzigen Debatten mit ihnen bislang ausgewichen. Unsere politische Lage mitsamt aller Affären und Skandale machen Ausweichmanöver jedoch unmöglich. Und das ist gut so. Die Zeiten, in denen Politik aufgrund gegensätzlicher Meinungen in Gesprächen ein Tabu-Thema war, sind nämlich vorbei. Ich habe mit Menschen geredet, die sich andauernd politischen Diskussionen stellen. Und zwar freiwillig! Zwei Freundschaften und eine Beziehung haben mir gezeigt, wie man mit Differenzen in der Politik umgeht.

Amer ist politisch links und wählt grün, Stefan war lange Zeit FPÖ-Wähler

Amer und Stefan kennen sich seit 20 Jahren. Sie sind Freunde und Nachbarn, ihre Kinder sind zusammen aufgewachsen. Klar also, dass sie auch ihre unterschiedlichen politischen Ansichten kennen. Erst in den letzten Jahren ist es zwischen ihnen zunehmend zu Diskussionen gekommen, so auch bei unserem Interview, das in Amers Wohnung stattfindet. Am Esstisch sitzen sich die Freunde gegenüber, beide mit einem Bier in der Hand. Amers Frau kommt kurz ins Zimmer und sagt dem 50-Jährigen, er soll ja auf seinen Blutdruck achten. Der gebürtige Serbe ist politisch links und wählt grün, Stefan war lange Zeit FPÖ-Wähler und zufrieden mit der türkisblauen Regierung. Würde Amer nicht so oft über Politik sprechen, wäre Stefan vielleicht niemals mit einer anderen Ansicht konfrontiert. Denn Amer ist der einzige Freund des 52-Jährigen, der links wählt. Als HC Strache im Ibiza-Video davon sprach, das österreichische Wasser zu verkaufen, zog Stefan den Schlussstrich. Am 29. September wird er aus Wut gar nicht wählen. „Ich dachte früher immer, du hältst mich für einen Nazi“, meint Stefan. „Wenn ich dich für einen Nazi halten würde, würdest du nicht an meinem Tisch sitzen“, antwortet Amer.

Amer war drei Jahre alt, als er mit seiner Familie aus Ex-Jugoslawien nach Wien flüchtete. Es herrschten menschenunwürdige Zustände, die Zukunft war aussichtslos. Er weiß, wie es sich anfühlt, seine Heimat zu verlassen. „Und deshalb ist jeder, der an meine Tür klopft, willkommen. Ist mir wurscht, ob das ein Serbe oder Burgenländer ist.“ Bei Diskussionen kommen Amer und Stefan nie auf einen Konsens. Als Stefan vor drei Jahren einen Van der Bellen-Sticker auf Amers Postkasten sah, war er außer sich. „In hundert Jahren hätte ich den nicht gewählt!“ Um gegen die Migrationspolitik der türkisbauen Koalition vorzugehen, nutzte Amer sein Demonstrationsrecht. Stefan fand das undemokratisch, ihm würde nie einfallen, zu demonstrieren. „Die Mehrheit der Österreicher hat abgestimmt, die Regierung wurde demokratisch legitimiert!“, meint er. „Hitler wurde auch demokratisch legitimiert.“, kontert Amer und Stefan schlägt seufzend die Hand auf die Stirn.

Hannah absolvierte nach der Schule ein freiwilliges, soziales Jahr in Indien, Felix ist einer Studentenverbindung beigetreten

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Illustration von Mariella Lehner

So gleich Hannahs und Felix Leben in mancher Hinsicht auch ist, so unterschiedlich ist es in anderer. Beide sind in Wien geboren und in der oberen Mittelschicht aufgewachsen. Hannah absolvierte nach der Schule ein freiwilliges, soziales Jahr in Indien, Felix ist einer Studentenverbindung beigetreten. Zu deren Prinzipien zählen unter anderem Religion (Christliches Miteinander) und Patria (Liebe zum Vaterland). Hannah ist kein Fan der Gruppierung, die an alten Traditionen festhält. Politisch orientiert sich Hannah links, Felix bezeichnet sich als konservativ-neoliberal. Die beiden debattieren auch gerne bis sechs Uhr morgens miteinander, trotzdem sagt Hannah: „Ich kann niemanden dazu zwingen, wie ich zu denken. Und das will ich auch gar nicht.“ Die Nachrichten liest Felix in der eher konservativen Zeitung Die Presse, ansonsten informiert er sich gerne durch Youtube-Videos. Hannah hingegen liest Die Zeit und den eher links-liberalen Standard, so oft sie kann.

Mia ist Lehrerin und stammt aus einer pazifistischen Familie. Logisch, dass sie bei Leon, der beim Bundesheer arbeitet, Vorurteile hatte

Eine feste Beziehung liegt nochmal eine Stufe höher als Freundschaft, weshalb mich die Harmonie zwischen Mia und Leon trotz politischer Differenzen besonders fasziniert. „Ich dachte: Ok passt, in den verliebe ich mich niemals!“, sagt Mia und lacht, als sie von ihrer ersten Begegnung mit Leon vor drei Jahren erzählt. Wir sitzen zu dritt in ihrer gemeinsamen Wohnung. Mia ist Lehrerin und stammt aus einer pazifistischen Familie. Irgendwie logisch, dass sie bei Leon, der beim Bundesheer arbeitet, Vorurteile hatte. Die 25-Jährige verliebte sich trotzdem, seit zweieinhalb Jahren sind die beiden ein Liebespaar. Mia wählt Die Grünen und Leon die ÖVP. Die Umsetzungen der Regierung haben den 27-Jährigen meist nicht betroffen: „In manchen Dingen muss man auf sich selbst schauen.“  Zu Streit kommt es deshalb zwischen den Beiden nicht, stattdessen hilft man sich gegenseitig, aus der eigenen politischen Blase rauszukommen.

Eine Sache haben Felix und Leon, die zur ÖVP tendieren, und Stefan, der enttäuschte FPÖ-Wähler, gemeinsam: Sie haben kein Vertrauen in österreichische Politiker. Die Affären der letzten Monate beeinflussen ihre Wahlentscheidung nicht. „Das Ibiza-Video war wurscht. Alle Politiker sind so!“, meint Felix. Man ist sich einig, dass Sebastian Kurz maßgeblich für den Erfolg der Türkisen verantwortlich ist. „Er ist die perfekte Galionsfigur“, meint Leon. Alle gehen davon aus, dass es erneut zu einer türkisblauen Koalition kommen wird. Für Amer unverständlich: „Als Selbstständiger könnte ich auch Türkis wählen, aber es ist egal, ob mir zwölf Euro oder 20 Euro übrigbleiben. Ich will andere Menschen nicht ausbeuten.“ Auch Mia findet, dass sich sozial viel durch die letzte Regierung verschlechtert hat. Die SPÖ hat ihre Chance bei all den Skandalen der Kontrahenten leider vertan, meint Hannah. Niemand weiß so richtig, wofür sie stehen.

Viele Menschen würden Mias Frage wohl bejahen. Weil sie sich eine Freundschaft oder Beziehung mit einer Person, die andere Ansichten hat, nicht vorstellen können. Doch mindert es wirklich die Glaubwürdigkeit meiner politischen Einstellung, wenn mein Freund diese Einstellung nicht teilt? Ist es nicht ignorant, andere Meinungen schlichtweg auszuschließen? Politik ist in Österreich so allgegenwärtig wie schon lange nicht mehr. Es war nie wichtiger, seinem Gegenüber zuzuhören. Anstatt aufeinander wütend zu sein, sollten wir miteinander reden. Solange Rassismus und Hetze vor der Tür bleiben, ist jeder zum Dialog herzlich eingeladen. Denn wer offen und ehrlich mit anderen Menschen über Politik spricht, kann etwas bewirken, da sind sich alle einig. In einer Welt, die sich politisch immer mehr spaltet, ist das wohl auch der einzige Weg.

**Unsere Redaktion kooperiert mit biber  –  was wir bei JETZT ziemlich leiwand finden. Als einziges österreichisches Magazin berichtet biber direkt aus der multiethnischen Community heraus – und zeigt damit jene unbekannten, spannenden und scharfen Facetten Wiens, die bisher in keiner deutschsprachigen Zeitschrift zu sehen waren. biber lobt, attackiert, kritisiert, thematisiert. Denn biber ist "mit scharf". Für  ihre Leserinnen und Leser ist biber nicht nur ein Nagetier. Es bedeutet auf türkisch "Pfefferoni" und auf serbokroatisch "Pfeffer" und hat so in allen Sprachen ihres Zielpublikums eine Bedeutung. Hier könnt ihr die aktuelle Ausgabe sehen.

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