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Warum junge Menschen bei der Afterhour der Realität entfliehen

Alle Fotos wurden nachgestellt, alle Namen von der Redaktion geändert. Die Personen aus dem Artikel sind nicht die abgebildeten Personen auf den Bildern.
Foto: Christoph Liebentritt

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„Magst du auch bissi?“, fragt er mich, während er mir das Tablett mit dem weißen Pulver und einen Zehn-Euro-Schein vor die Nase hält. Ich schüttle verneinend den Kopf, er zuckt mit den Schultern und zieht noch eine Line Speed. Es ist Sonntag, immerhin schon neun Uhr morgens. Max* ist seit Donnerstag durchgehend am Feiern, wie er mir erklärt. Wir befinden uns auf dem Sofa einer WG in Wien-Neubau. Etwa zwanzig Menschen sitzen verstreut im Wohnzimmer auf den Couchen und am Boden. Die Gespräche werden übertönt von der leisen Techno-Musik, die irgendwo aus den Boxen in der Ecke dröhnt. Die Sonnenstrahlen, die durch die zugezogenen Vorhänge in den Raum fallen, scheinen auch niemanden zu stören: Viele der Anwesenden tragen eine Sonnenbrille. Das Zimmer ist voll mit halbleeren Radlerdosen, die Aschenbecher quillen über – ein Setting, das man normalerweise am morgen nach einer Party auffindet. Nur, dass diese Party erst begonnen hat. Wir befinden uns auf einer Afterhour. Während der Großteil der Wiener Partymeute nun ihren Rausch ausschläft, geht es für uns hier nach dem Club weiter, müde ist noch niemand. Kein Wunder: Die Feierfreudigen halten sich mit Kokain oder Speed wach, nach Hause gehen ist keine Option. Es ist eine andere Sphäre, Zeitgefühl und die Außenwelt existieren hier nicht. Geschlossene Gesellschaft, eine unausgesprochene Regel: Alles, was hier passiert, bleibt hier.

MDMA-induzierte Liebe

Somit breche ich das erste Gebot einer Afterhour: Man spricht nicht über eine Afterhour. Zumindest nicht mit Leuten, die nicht zum ausgewählten Kreis gehören. Zweite Regel: Keine Fotos. Warum dem so ist, muss ich wohl nicht erklären. Mittlerweile ist es zehn Uhr, die Party dauert an. Ich setze mich auf den Boden zu einer Gruppe Mädchen, die sich seit zehn Minuten ununterbrochen gegenseitig ihre Liebe gestehen und sich die Haare streicheln. Wer sich nicht auskennt: MDMA, also Methylen-Dioxy-Methyl-Amphetamin, in Tablettenform auch Ecstasy genannt, ist hier im Spiel. Durch die Droge verspürt man eine emotionale Nähe und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit mit anderen, die Euphorie im Körper steigt gemeinsam mit dem Serotoninspiegel.

Das merke ich auch auf dieser Party: Keine Frage, die Stimmung ist super. Jeder hat sich lieb, die Menschen schwelgen nur so in ihrer Glückseligkeit. Es ist wie eine andere Welt. Dass es mittlerweile fast Mittag ist, scheint niemanden zu stören. Drogen sind im Umlauf und niemand macht ein Geheimnis daraus, man ist ja unter sich. Mir wird das allerdings langsam alles viel zu surreal, also mache ich mich auf den Heimweg. Davor verabschiede ich mich noch von Max, dessen Line-Angebot ich vorher abgelehnt habe. Mittlerweile ist er vom Speed auf einen Joint umgestiegen, zum Runterkommen. Er müsse ja morgen wieder arbeiten, wie er mir erklärt, während er einen fetten Rauchschwall ausatmet. Wie er das schaffen wird, will ich wissen. Sein Freund, der neben ihm sitzt, verdreht die Augen, als er meine Frage hört. „Komm, lass dich umarmen“, sagt der Fremde. Sein Kiefer zuckt hin und her, auch eine Nebenwirkung von MDMA. Er ist komplett drauf, oder „druff“, wie es im Drogenjargon heißt. Was morgen sein wird, ist doch egal. Wir sind jetzt hier und da denkt keiner an das, was draußen ist, lasse ich mir sagen. Der Moment zählt, alles andere ist unwichtig.

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Alle Fotos wurden nachgestellt, alle Namen von der Redaktion geändert.

Foto: Christoph Liebentritt

„Du willst eine Leere mit den Drogen und dem Feiern füllen“

Szenenwechsel. Zehn Minuten später, als ich auf dem  Heimweg auf die Straßenbahn warte, wird mir die Absurdität des Ganzen bewusst: Während draußen die Menschen in Wien ihrem sonntäglichen Trott nachgehen, Familien ins Freibad fahren, Hunde Gassi führen und solche Dinge, scheinen für die Leute in dieser Wohnung die Regeln der normalen Welt nicht zu gelten. Was ja auch klar ist, genau aus diesem Grund berauschen sich Menschen seit jeher. Mir wirft sich allerdings die Frage auf, wie lange so eine Realitätsflucht gut für einen ist, und ab wann man den Anschluss zum Alltag verliert. Was in der Teenager-Zeit der Tankstellen-Wein war, scheinen zehn Jahre später chemische Drogen zu sein. Immer mehr merke ich, wie normal und selbstverständlich Menschen in meinem Umfeld mit illegalen Substanzen umgehen. Ich möchte verstehen, was genau sie dazu bewegt. Die meisten werden beim Schlagwort „Drogensucht“ an den Bahnhof Zoo denken, aber das ist schon längst nicht mehr so. Regelmäßiger Drogenkonsum ist in der Mitte unserer Gesellschaft angelangt. Ob man darüber reden will oder nicht. Zumal diese Menschen ja einen Job oder eine Ausbildung haben, anders könnten sie sich den Lifestyle ja nicht leisten. Einfache Rechnung: Drogen sind teuer. Jedes Wochenende Party machen ist teuer. Wenn diese Realitätsflucht zum Lebensmittelpunkt wird, wird es verdammt teuer. Und zwar nicht nur finanziell, sondern auch gesundheitlich und vor allem psychisch. Ist es das wert?

„Manche Gespräche entstehen nur auf Drogen“

Um mir diese Frage zu beantworten, kontaktiere ich einen Freund, der selbst Stammgast auf jeder zweiten Afterhour in Wien ist und auch mal dreißig Stunden am Stück durchfeiern kann. Armin* ist 25, Student und nebenbei DJ. Er bezeichnet das Feiern als seinen Lebensmittelpunkt. „Es geht die meiste Zeit und Energie sowie die meisten Gedanken drauf. Ich rechne mir aus, wie viele Events und Partys ich am Wochenende besuchen kann.“ Er kennt Situationen, wo es nach einer Afterhour wieder weiter auf eine Party geht. Armin* sieht das Partymachen als einen Ersatz für etwas, das er in dieser Lebensphase nicht hat, sagt aber gleichzeitig, dass es irgendwo auch ein Gesellschaftsproblem ist.  „Die Leute arbeiten 40 Stunden und können immer noch nicht ihre Wohnung bezahlen. Dann hagelst du dich am Wochenende halt voll. Natürlich ist das eine Flucht aus der Realität. Man denkt nicht daran, was man am Montag zu tun hat. Außerdem bist du dann ständig in Gesellschaft.“ Die Menschen, mit denen er die Wochenenden durchfeiert?  Bunt gemischt. „Das sind Leute aus Medien, Film, Fernsehen, Politik. Genau wie Soziologiestudenten“, sagt Armin und lächelt dabei. Aber eines verbindet sie: Man habe einfach durch das gemeinsame Drogennehmen eine Connection, die man mit anderen nicht hat. „Manche Gespräche passieren einfach erst nach Ecstasy und dreißig Stunden am Stück miteinander verbringen“, sagt er. Bewusstseinserweiternde Substanzen können einen Einfluss auf Gespräche, zwischenmenschliche Beziehungen und Erkenntnisse haben, die man über sich selbst hat. Sei es positiv oder negativ. Er betont aber, dass er den Konsum keinesfalls verherrlichen will und man vernünftig damit umgehen muss. Dasselbe gelte aber auch für Alkohol. Er versteht nicht, wieso da so ein Unterschied gemacht wird. „Rausch ist Rausch. Im Endeffekt ist es bei Alkohol nur eben so, dass du einen Rausch ein paar Stunden lang ausschläfst und nach einem Drogen-Wochenende bist du halt drei Tage lang im Arsch.“

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Alle Fotos wurden nachgestellt, alle Namen von der Redaktion geändert. Die Personen aus dem Artikel sind nicht die abgebildeten Personen auf den Bildern.

Foto: Christoph Liebentritt

Genau das ist der Punkt, der mich zum Grübeln bringt. Wie kann man sich in unserer Leistungsgesellschaft erlauben, drei Tage lang nicht leistungsfähig zu sein? Wie das enden kann, sieht man beim 30-jährigen Leo*, der sich jahrelang alle möglichen illegalen Substanzen reingeschmissen hat. Er studiert immer noch im Bachelor, ein Ergebnis seiner durchfeierten Zwanziger. Jahrelang war ihm das egal, er beteuerte immer, dass sein Leben super ist und ihm nichts fehlt. Ich kenne ihn schon länger und bohre nach, ob das wirklich immer noch so ist. Irgendwann knickt er ein: „Nach einer Zeit hast du so eine Leere in dir, die du mit dem Feiern und den Drogen füllen willst. Aber es wird halt nicht besser. Nur für den Moment. Aber egal.“  Er zuckt mit den Achseln und macht sich eine Zigarette an, die dritte am Stück. Seine Freunde haben einen ähnlichen Lebensstil wie er, das Feiern steht über allem. Über Geld und seine Zukunft macht sich Leo nicht allzu viele Gedanken, er kommt aus wohlhabendem Hause. Man sieht ihm die durchzechten Jahre nicht im Gesicht an, allerdings an seiner Mimik und Rhetorik. Er spricht langsam, schweift ständig ab. Leo* scheint dennoch alles egal zu sein, ob er seine Zukunft auf die Reihe bekommt oder nicht, ist ihm ziemlich gleichgültig. 

„Kurz am Klo koksen und weiter geht’s“

Mirella*, eine 27-jährige FH-Studentin, hat noch viel mehr Energie. Auch sie feiert mal drei Tage am Stück durch und sieht ihren Lifestyle als das Nachholen ihrer Anfang-Zwanziger. Mirella war bis Mitte zwanzig in einer Langzeitbeziehung, führte ein für das Alter sehr geregeltes Leben und ging auch mal feiern, aber „im normalen Maße halt“, wie sie erzählt. Dennoch fühlte sie sich damals wie gefangen in einem goldenen Käfig. „Das ist ein Coping-Mechanismus, der nicht gut ist, das weiß ich. Aber ich bin jetzt glücklicher, als ich es früher war“, erklärt sie. Sie kennt viele Menschen in der Nachtgastronomie, also findet sie immer wen zum Feiern. Auch wenn man seine Truppe verliert, findet man jemanden, der weiterfeiern will. „Dann geht man halt mal kurz schmusen oder aufs Klo koksen – und es geht weiter“, sagt sie. Mirella* will das aber nicht auf ewig so weitermachen. Wenn sie mal einen Vollzeitjob hat, werden sich ihre Prioritäten ändern, da ist sie sich sicher. Aber derzeit möchte sie ihren Lifestyle noch nicht ändern. 

Ähnlich geht es Maisam*, die gerade in der Endphase ihres Jura-Studiums steckt. Sie sieht im exzessiven Feiern eine Art Antwort auf die fehlende Liebe im Millennial-Zeitalter. „Wir sind eine Generation in der schon ein Gspusi zu viel Bindung bedeutet. Auf einer Afterhour gibt es so viel Liebe, alle sind übertrieben nett und durch die Drogen kann man auch hemmungsloser Gefühle zulassen. So nach dem Motto: Sharing is caring, auch wenn es um die Drogen, die man dort gemeinsam nimmt, geht.“ Es gehe laut Maisam aber nicht ums „Aufreißen“ per se. „Weil ganz ehrlich, wenn ein Typ schon so zugeballert ist, kriegt er eh keinen hoch“, resümiert sie und lacht. Es sei mehr so eine Kuschel-Stimmung, ein Gemeinschaftsgefühl, das man im Alltag vergeblich sucht. „Es ist eine kleine Fake-Welt. Auf einer Afterhour wirst du keine Freunde fürs Leben finden. Aber für den Moment denkst du das.“ Man sieht sich ja immerhin wahrscheinlich irgendwann auf irgendeiner schrägen Party wieder. Aber davor muss man wieder zumindest eine Woche in der Realität leben.

Nach dem durchzechten Wochenende, wenn der letzte Afterhour-Gast gegangen ist, die Leute von den Drogen runterkommen, sich die glückselige berauschte Ekstase verflüchtigt und in ein Serotonin-Loch übergeht, knallt der Alltag wieder härter rein als die ärgste Droge. Aber die nächsten Tage in einem depressiven Loch zu verbringen, das gehört dazu. Einfach durchhalten bis zum nächsten Wochenende. Die Party muss weitergehen.

Achtung: Drogenkonsum kann zur Sucht führen und langfristige Schäden an deiner Gesundheit und Psyche verursachen. Dieser Artikel soll keinesfalls zum Konsum illegaler Drogen aufrufen. Wenn du merkst, dass du in eine Sucht gerätst oder es dir durch den Konsum nicht gutgeht, gibt es verschiedene Ansprechpartner*innen, deren Job es ist, dir kompetent weiterzuhelfen. Zum Beispiel kannst du sofort hier anrufen: 089 / 28 28 22. Das ist die Telefonnummer der SuchtHotline – die für Betroffene und Angehörige jeden Alters und aller sozialer Schichten – anonym, unverbindlich, kostenlos und zu jeder Tages-und Nachtzeit erreichbar ist.

*Alle Namen von der Redaktion geändert.

**Unsere Redaktion kooperiert mit biber  –  was wir bei JETZT ziemlich leiwand finden. Als einziges österreichisches Magazin berichtet biber direkt aus der multiethnischen Community heraus – und zeigt damit jene unbekannten, spannenden und scharfen Facetten Wiens, die bisher in keiner deutschsprachigen Zeitschrift zu sehen waren. biber lobt, attackiert, kritisiert, thematisiert. Denn biber ist "mit scharf". Für  ihre Leserinnen und Leser ist biber nicht nur ein Nagetier. Es bedeutet auf türkisch "Pfefferoni" und auf serbokroatisch "Pfeffer" und hat so in allen Sprachen ihres Zielpublikums eine Bedeutung. Hier könnt ihr die aktuelle Ausgabe sehen.

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