Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Warum queere Charaktere in Videospielen eine Seltenheit sind

Bild: Sony

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Wieder „Schwuchtel“. Dann „gay“, irgendwas ist immer „gay“. Christoph, 34, sitzt oft vor seinem Bildschirm, Headset auf dem Kopf, und hört diese Worte – als schwuler Mann. „Auch wenn ich sie eigentlich schon gar nicht mehr höre“, erzählt er. „Call of Duty“, „Battlefield“, „Overwatch“, das sind so die Spiele, die er gerne zockt. Allesamt Shooter, kompetitive Spiele. Christoph sagt, er müsse viel überhören, ansonsten könne er das Online-Spielen gleich bleiben lassen. Aber Christoph spielt nun mal echt gerne online. „Die meinen ja auch meist nicht mich, benutzen diese Begriffe einfach als Schimpfwörter für alle.“

Queere Menschen, die Videospiele spielen, queere Geschichten und Charaktere in Videospielen – sie haben eines gemeinsam: Es gibt sie, aber sie haben es nicht immer leicht.

Auf der E3, der wichtigsten Videospielmesse, die jedes Jahr im Juni in Los Angeles stattfindet, stellte Sony kürzlich ein neues Spiel vor. Die Zuschauer bekamen etwas Unerwartetes zu sehen: einen Kuss zwischen zwei Frauen. Zögernd nähern sich ihre Lippen an, dann sehr bestimmt: der Kuss. „The Last of Us 2“ heißt das Spiel, der lange Kuss bildet den dramaturgischen Dreh- und Angelpunkt. Die Protagonistin des Spiels ist Ellie, eine Frau, die auf Frauen steht.

„Viele Firmen scheinen einfach Angst zu haben“

Nach der Veröffentlichung beschwerten sich Gamer über die Darstellung des Kusses. Ob das denn wirklich nötig sei, wollten sie wissen, andere beklagten sich über eine „politische Agenda“. Das passiert regelmäßig, wenn Entwickler sich darum bemühen, in ihren Spielen eine diversere Gesellschaft darzustellen. Dann wird es laut in den sozialen Medien und in Kommentarbereichen unter Videos und Artikeln. In Foren wie Reddit sehen Gamer ihr Hobby bedroht, unterwandert von Politischer Korrektheit. Entwickler werden auf Twitter beleidigt, wenn sie sich für Diversität in der Industrie einsetzen. Dabei geht es doch eigentlich nur um Repräsentation.

„Ich habe gelernt, vorsichtig zu sein“, erzählt Jojo. Die 22-Jährige identifiziert sich als bisexuell. Es sei schon zu oft vorgekommen, dass queere Menschen im fertigen Spiel schließlich kaum eine Rolle spielten. „Da fühle ich mich dann auch betrogen. Viele Firmen scheinen einfach Angst zu haben“, meint sie. Angst vor einem Publikum, das schon damit ein Problem habe, eine Frau zu spielen. Und dann auch noch eine queere Frau? Da sei es einfacher, die queeren Geschichten und Charaktere nur anzureißen – bloß niemals in die Tiefe gehen! Die Folge: Die Minderheiten schweigen oder kehren ihrem Hobby gleich ganz den Rücken. „Irgendwann zieht man sich raus, wird leise“, sagt Jojo. „Denn sonst wird die Spiel-Erfahrung einfach versaut.“

Die Reaktionen einiger Gamer auf den Kuss zeigen das Dilemma der Videospielindustrie: Lange Zeit wurden Videospiele für junge Männer hergestellt – weiße, heterosexuelle junge Männer. In der Annahme, dass Frauen und andere sogenannte Minderheiten sich nicht für Videospiele interessieren. Irgendwann glaubten diese Gamer auch selbst, dass sie die einzigen sind.

„Das Spiel hat mir geholfen zu akzeptieren, dass ich lesbisch bin“

Lisa ist 25, Lisa ist lesbisch. Seit sie zwölf ist, spielt sie Videospiele. Angefangen hat es mit dem Online-Rollenspiel „World of Warcraft“, das habe ihr eine Flucht aus der realen Welt geboten. Doch ein Spiel habe ihr Leben komplett verändert: „Mein absolutes Lieblingsspiel ist ‘Life is Strange‘. Als ich es entdeckt habe, war ich in einer tiefen Depression und Isolation“, erzählt sie. Niemand habe ihr zu der Zeit helfen können – bis auf dieses Spiel. Es geht darin um die Protagonistin Max, die ihre Kindheitsfreundin Chloe wiedertrifft. Im Laufe der Geschichte merken die beiden, dass sie Gefühle füreinander haben. „Die Welt aus der Perspektive von Max zu sehen, hat etwas in mir bewegt. Ich habe die Welt um mich herum nie mit so viel Liebe betrachten können wie sie. Das Spiel hat mir geholfen zu akzeptieren, dass ich lesbisch bin“, sagt Lisa. Für sie war es also nicht „Politik“, eine queere Figur in einem Videospiel zu sehen. Es war vielmehr ein erstes Wiedererkennen.

In Videospielen gibt es schon länger queere Charaktere. Doch sahen die lange Zeit ziemlich klischeehaft aus: deutlich markierte Witzfiguren. Ihr einziger Zweck war die Belustigung der Spieler. Wie etwa Ash aus dem Kampfspiel „Streets of Rage 3“, der in Bewegungen und Aussehen kaum stereotyper hätte dargestellt werden können – inklusive Lederkluft. Das war 1994.

Heute gibt es nicht nur öfter queere Charaktere, die ernst zu nehmen sind (wenn auch fast nur in Nebenrollen, etwa Tracer aus „Overwatch“, oder eben Ellie aus „The Last of Us“), die Spieler haben inzwischen auch in immer mehr Spielen die Möglichkeit, die Sexualität der Spielfiguren selbst zu wählen. Die millionenschwere Spielereihe „Assassin’s Creed“ etwa soll Spielern im kommenden Teil, der im Oktober erscheinen wird, zum ersten Mal die Möglichkeit bieten, zu entscheiden, ob sie mit Männern, Frauen, oder beiden Geschlechtern eine Beziehung eingehen wollen.

„Wollte ich einen Mann heiraten, musste ich reales Geld dafür ausgeben“

Billy ist 21 und kennt trotzdem noch die Zeit, als queere Beziehungen in Videospielen eine Seltenheit waren. „Vor fünf Jahren habe ich ,Fiesta Online‘ gespielt, dadurch sogar Freunde gefunden“, erzählt er. Er habe schon damals von seiner Homosexualität gewusst und sich dann gefragt, ob er in so einem Spiel eigentlich auch einen Mann heiraten könnte – doch das ging nicht. Die einzige Möglichkeit: einen weiblichen Charakter erstellen, einen Mann heiraten und dann sein Geschlecht ändern. Das Problem: Eine Änderung des Geschlechts im Spiel kostet Geld. „Wollte ich einen Mann heiraten, musste ich reales Geld dafür ausgeben“, sagt Billy. Das habe er dann jedoch nicht gemacht – das Geld hätte schließlich von den Eltern kommen müssen.

Billy hat gerade seine Ausbildung zum Erzieher beendet. Das Spielen verbindet ihn mit vielen der Kinder, die er täglich sieht. „Videospiele könnten eigentlich ein gutes Medium sein, um auch jungen Menschen die Scheu vor dem vermeintlich Anderen zu nehmen“, findet er. Mal eine andere Perspektive einnehmen, eine Figur steuern, die vielleicht anders fühlt und mit anderen Problemen konfrontiert ist. Und wenn diese Kinder damit aufwachsen, wer weiß, vielleicht ist es für sie dann bald ganz normal, selbst Spiele zu programmieren, in denen queere Charaktere nichts Besonderes sind. Sondern einfach eine Geschichte haben, die es lohnt zu erzählen.

Mehr Digitales:

  • teilen
  • schließen