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"Der Klient, der eben noch halbtot war, ist aufgesprungen und wollte abhauen"

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Stellen wir uns folgende Szene vor: ein Heroinsüchtiger setzt sich einen Schuss. Eine Überdosis. Er wird bewusstlos, das Atemzentrum setzt aus, bald darauf folgt der Herzstillstand. Wäre es nicht gut, diesen Menschen jetzt retten zu können? Indem man ihm ein Gegenmittel verabreicht?

Es gibt dieses Gegenmittel. Es heißt Naloxon und gilt als eines der effektivsten bei Überdosen, weil es innerhalb kürzester Zeit den Atemstillstand aufhebt. 

Im vergangenen Jahr wurde im Bayerischen Landtag deshalb darüber diskutiert, ob das Medikament Naloxon für medizinische Laien zugänglich sein sollte, damit sie es in Drogennotfällen verabreichen können. Bayern ist seit mehreren Jahren das Bundesland mit den meisten Drogentoten. Seit 2011 hat sich die Zahl im Freistaat fast verdoppelt, 2016 waren es 321.

Befürworter argumentieren: Wenn Freunde, Verwandte oder Sozialarbeiter darauf zugreifen könnten, ließen sich zahlreiche Menschenleben retten. Die CSU hat die Abgabe von Naloxon zunächst abgelehnt. Mittlerweile hat sie sich aber für ein Modellprojekt ausgesprochen. An mindestens zwei Standorten in Bayern soll getestet werden, wie sich die Abgabe an medizinisch geschulte Laien künftig regeln lassen könnte.

In der Notfallmedizin und beim Rettungsdienst ist Naloxon seit Jahren in Gebrauch. Erfunden hat es der polnische Wissenschaftlier Jack Fishman, der sich Naloxon 1961 patentieren ließ. Zwischenzeitlich wurde es auch zur Behandlung von Menschen mit Autismus getestet. Bis heute dient es aber vor allem als Gegenmittel bei Opiatüberdosen. In den USA ist Naloxon inzwischen als Nasenspray verfügbar.

Olaf Ostermann ist Sozialpädagoge und arbeitet seit dreizehn Jahren bei der Münchener Beratungsstelle Condrobs. Seit 2011 leitet er dort unter anderem den Kontaktladen limit, wo er Menschen mit Drogenproblemen berät. Ostermann ist einer der Befürworter des Take-Home-Naloxon. Vergangenes Jahr hat er bei Condrobs erstmals Naloxon-Schulungen gegeben und Notfall-Kits verteilt. Wir haben mit ihm darüber gesprochen.

jetzt: Herr Ostermann, Sie haben 2016 zum ersten Mal Naloxon-Schulungen in München durchgeführt und das Medikament an Drogenkonsumenten verteilt. Ihre Erfahrungen damit?

Olaf Ostermann: Kurz gesagt: sehr positiv. Man muss die Klienten zunächst ein wenig überzeugen, Naloxon hat in der Szene nicht den besten Ruf. Die meisten kennen dieses Medikament vom Notarzt und es kommt immer wieder vor, dass der zu viel davon verabreicht. Dadurch tritt sehr schnell der Entzug ein, die Konsumenten schreien bei Naloxon also nicht „Hurra“. Die sieben Trainings, die wir im vergangenen Jahr für Klientinnen und Klienten angeboten haben, liefen aber sehr gut. Von den 65 Personen, die daran teilgenommen haben, haben 54 danach auch Naloxon-Nofall-Kits erhalten. 

 

Was ist da drin?

Drei Ampullen Naloxon und ein Spritzenset. Dazu zwei Handschuhe und ein Beatmungstuch. In Deutschland gibt es Naloxon leider noch nicht als Nasenspray. Hier ist es nur als Ampulle verfügbar, die außerdem verschreibungspflichtig ist. Es kann also nur Menschen als Notfallmedikament verschrieben werden, die aktuell Opiate oder Opioide konsumieren. Über die Nase lässt es sich aber leichter verabreichen. In den Notfall-Kits war deshalb auch ein Zerstäuber, den man auf die Spritze aufsetzen kann. Rechtlich ist das eine Grauzone.

 

Wissen Sie, ob die Konsumenten das Naloxon nach den Trainings mal eingesetzt haben?

Wir haben von fünf Fällen gehört, in denen es während eines Drogennotfalls eingesetzt wurde – der Klient hat jedes Mal überlebt.

 

Stellen wir uns vor, ein Heroinkonsument spritzt sich eine Überdosis und wird bewusstlos: Was passiert, wenn man ihm daraufhin Naloxon verabreicht?

Opiate wie Heroin docken ja an Rezeptoren im Gehirn an. Wenn jemand zu viel davon konsumiert, wird er bewusstlos und das Atemzentrum setzt nach einer gewissen Zeit aus. Das Gehirn wird dann nicht mehr mit Sauerstoff versorgt, kurz darauf setzt der Herzstillstand ein. Naloxon ist nun ein sogenannter Opiatantagonist: Es dockt an die gleichen Rezeptoren an und verdrängt das Opiat von dort. Verabreicht man es rechtzeitig, fängt der Klient wieder an zu atmen, die Gesichtsfarbe kehrt zurück. Ich habe das einmal hier im Kontaktladen erlebt, da hatte sich jemand im Klo einen Druck gesetzt, kam raus und ist umgefallen. Der Notarzt hat ihm das Naloxon dann intravenös verabreicht. Der Klient, der eben noch halbtot war, hat sich nach 15 Sekunden ruckartig aufgesetzt, ist aufgesprungen und wollte abhauen. Nasal dauert es etwas länger, zwei bis drei Minuten.

 

Klingt wie ein Wundermittel. Hat es denn auch Nachteile?

Zum einen ist die Halbwertszeit von Naloxon geringer als die von Opiaten. Wenn jemand sehr viel konsumiert hat, kann es sein, dass das die Droge wieder andockt, nachdem das Naloxon aufgehört hat zu wirken. Theoretisch kann der Klient dann wieder in die Überdosis fallen. Deswegen betonen wir bei den Schulungen, dass die Leute in jedem Fall einen Notarzt rufen müssen. Ein weiterer Punkt: Wenn man zu viel Naloxon verabreicht, kann man den Konsumenten damit in einen schweren Entzug versetzen. Dieser Zustand ist sehr schmerzhaft, weshalb die Gefahr besteht, dass er nachlegt und dann garantiert eine Überdosis im Körper hat. Das sind Nachteile, über die man aber gut aufklären kann.

 

Kann man Naloxon missbrauchen? Was würde beispielsweise passieren, wenn ich mir das Medikament spritze?

Sie würden wahrscheinlich gar nichts spüren. Vielleicht ein wenig Kopfweh oder Übelkeit. Möglicherweise erhöht sich Ihr Blutdruck und sie bekommen Herzrasen. Wenn jemand an einer angeborenen Herzkrankheit leidet, kann das zu ernsteren Problemen führen, ist aber selten. Ansonsten hat Naloxon kein Missbrauchspotential. Es macht auch nicht abhängig.

 

In der Regel merken Konsumenten nicht, dass sie eine Überdosis im Körper haben. Wenn sie bewusstlos werden, können sie sich das Naloxon aber nicht mehr selbst geben.

Nein, das muss dann jemand spritzen oder nasal verabreichen, der dabei ist. Freunde, Bekannte, Verwandte. Das dürfen sie in dem Fall aber tun, weil der rechtfertigende Notstand greift. Eine Opiatüberdosis ist schließlich eine absolut lebensbedrohliche Situation. Wir empfehlen auch, dass Angehörige, Partner oder auch Freunde mit zu den Trainings kommen, um zu wissen, wie sie es im Notfall verabreichen.

 

Die CSU hat im vergangenen Jahr eingewendet, dass beim Rettungsdienst nur der Notarzt Naloxon geben darf, nicht aber die Rettungsassistenten. Das Argument der CSU: Wenn Rettungsassistenten das schon nicht dürfen, wieso sollten Laien es dann können?

Das ist eine rein rechtliche Sache, man müsste halt die Gesetze entsprechend anpassen. Medizinisch kann man bei der Verabreichung nicht viel falsch machen. Am sinnvollsten wäre zunächst, ein Nasenspray als Fertigpräparat auf den Markt zu bringen, wie man es in den USA einsetzt. Ein zweiter Schritt wäre dann, dieses Spray aus der Verschreibungspflicht zu nehmen, damit es leichter verfügbar ist. Denkbar wäre auch eine Art Gute-Samariter-Gesetz, das es Dritten im Drogennotfall erlaubt, Naloxon zu geben. In manchen US-Bundesstaaten ist das so geregelt, weil man damit Menschenleben rettet.

 

 

Ein anderer Einwand: Naloxon senke die Hemmschwelle, die Leute würden dadurch risikobereiter. Ihre Erfahrung?

Wenn jemand Drogen nimmt, will er high sein, sich gut fühlen, die Droge spüren. Nimmt er dann aber Naloxon, sind diese Gefühle weg. Sein Geld hat er damit zum Fenster rausgeworfen. Das wollen die Konsumenten nicht. Außerdem haben sie wirklich großen Respekt vor den Entzugserscheinungen. Aus meiner Erfahrung mit den Klienten hier würde ich sagen: 95 bis 98 Prozent der Drogengebraucher konsumieren nicht leichtfertiger, wenn sie Naloxon haben. Die wollen keinen Entzug riskieren.

 

Aber konsumieren Drogengebraucher möglicherweise größere Mengen? Spritzen sich vielleicht auch Stoff, von dem sie nicht wissen, ob er sauber ist, weil sie für den Notfall Naloxon dabei haben?

Es mag einzelne Fällen geben, in denen das passiert. Aber generell glaube ich nicht, dass sich das so auswirken würde. Sofern keine Suizidabsicht dahinter steckt, passieren Überdosen ja unabsichtlich. Wenn ein Konsument bewusstlos wird, bekommt er von seinem Kick nichts mehr mit. Warum sollten die Leute also näher an der Überdosis konsumieren? Von den Leuten, die ich im Kontaktladen berate, schätze ich niemanden so ein. Auch aus den Ländern, in denen das Take-Home-Naloxon schon eingesetzt wird, sind mir keine Anzeichen in diese Richtung bekannt. Und dass eine Droge verunreinigt ist, diese Gefahr besteht leider immer.

 

Bayern ist seit Jahren das Bundesland mit den meisten Drogentoten. Warum?

Das ist schwer zu sagen. In München hatten wir eine zeitlang ein großes Fentanyl-Problem, daran sind viele gestorben. Die Leute haben Fentanyl-Pflaster ausgekocht und intravenös konsumiert. Eine Ausweichtendenz, denn Heroin ist in München teuer und qualitativ nicht sehr gut. Auch der intravenöse Konsum von sogenannten Badesalzen ist im süddeutschen Raum ein großes Problem. Hinzu kommt, dass wir in Bayern keine Drogenkonsumräume und keine offenen Szenen haben. Die Leute weichen also auf private Räume aus, sie konsumieren oft alleine in ihrer Wohnung. Wenn niemand dabei ist, der im Fall einer Überdosis hilft, sterben die Leute daran. Aus den Polizeistatistiken geht immer wieder hervor, dass Zweidrittel der Drogentoten zuhause gefunden werden. Ich bin überzeugt, dass es die Zahl der Drogentoten senken würde, wenn es zum Beispiel Druckräume gäbe.

 

 

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