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Der Wahlabend in einer Pariser WG

Bild: Theo Müller

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Vielleicht hätte ich ablehnen sollen, als mir eine Frau auf der Pariser Place de la République am 1. Mai einen #LePenNON-Aufkleber in die Hand drückte. Das tat ich aber nicht. Ich griff dankend zu und klatschte den gelb-schwarzen Sticker auf meine Handyhülle. Dahin war mein Vorsatz, als Ausländer bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich neutral zu bleiben. Denn ein bisschen Angst hatten wir ja alle, dass sich dieses fiese Brexit-Trump-Gefühl am Ende bewahrheiten würde – allen noch so zuversichtlichen Umfragen zum Trotz.

Sechs Tage und eine TV-Schlammschlacht später findet der ultimative Showdown-Sonntag endlich statt: zwischen Ex-Wirtschaftsminister Emmanuel Macron (En Marche), Sieger des ersten Wahldurchgangs, und Marine Le Pen, Kandidatin des rechtsextremen Front National. Meine französische Kommilitonin Anaïs, 24, hat an diesem Nachmittag deutsche und französische Freunde zu einer Wahlparty in ihre schicke Altbau-WG im 12. Arrondissement eingeladen. Dass alle Franzosen, die heute kommen, Macron gewählt haben, versteht sich von selbst – schon vor zwei Wochen bekam Le Pen in Paris gerade mal 4,99 % der Stimmen.

Wir stehen für alles, wofür Le Pen nicht steht

Wir sitzen auf einem schwarzen Sofa im Wohnzimmer, trinken Bier und denken über das Leben nach. Viele von uns kennen sich aus dem Geschichtsstudium in Heidelberg und Paris. Ernsthaft neutral kann niemand von uns sein. Gemeinsam stehen wir für alles, wofür Marine Le Pen nicht steht: kulturellen Austausch, internationale Kooperation, Reisefreiheit, Erasmus, Weltoffenheit, den Euro. Natürlich kann Le Pen keine Option für uns sein. Das Problem ist nur, dass es der Ex-Banker Emmanuel Macron für viele Franzosen unter anderen Umständen genauso wenig gewesen wäre.

wahlparty paris 1
Bild: Theo Müller

 „Vor fünf Jahren ging es noch um eine ideologische Wahl zwischen Sarkozy und Hollande“, meint Louis, 23, der im ersten Wahlgang am 23. April noch den Sozialisten Benoît Hamon unterstützt hat. „Heute geht es nur noch darum, ein autoritäres Regime zu verhindern.“ Andere sehen das etwas entspannter: Der 25-jährige Sebastian, sowohl Deutscher als auch Franzose mit doppelter Staatsangehörigkeit, hat Macron schon im ersten Wahlgang seine Stimme gegeben. Aus taktischen Gründen, wie er sagt: „Ich wollte verhindern, dass François Fillon und Le Pen zusammen in die Stichwahl kommen.“

Angst vor der Filterblase

Aber können wir sicher sein, dass die Mehrheit in Frankreich so tickt wie wir? Oder leben wir am Ende doch in unserer eigenen Pariser Filterblase? Wirklich sicher kann sich da niemand sein, zumal nicht alle im ersten Wahlgang unterlegenen Kandidaten eine Empfehlung pro Macron gegeben haben. Der linke Politiker Jean-Luc Mélenchon zum Beispiel konnte sich nicht dazu durchringen. Dafür sagte die Zivilgesellschaft umso klarer ihre Meinung. „Es gab eine Initiative von 170 Chefärzten in Paris, die zur Wahl Macrons aufgerufen haben, weil die Wahl von Le Pen nicht mit dem hippokratischen Eid vereinbar sei“, erzählt Julia, 22. Sie studiert Medizin in Heidelberg und absolviert einen Erasmus-Aufenthalt in Paris. Helena, ebenfalls 22, studiert in Paris deutsch-französisches Recht und nahm sich des Problems lieber selbst an. Sie ging zu den Pulse-of-Europe-Demonstrationen in Paris: „Ich fand die Idee dahinter so eindeutig gut, dass ich es frech von mir gefunden hätte, da nicht hinzugehen.“

Der Wahltag zieht sich etwas. Wir haben Macron- und Le-Pen-Plakate ausgedruckt, kritzeln darauf herum und erliegen fast der Versuchung, allen ein Hitlerbärtchen zu verpassen. Unsere Nerven beruhigen wir dann lieber mit einem Spaziergang im Südwesten von Paris, in Richtung des Parks Bois de Vincennes. Unterwegs werden wir von Polizisten beäugt, denn ganz in der Nähe steigt die große Wahlparty des Front National. An diesem Ort zu sein und sich die Straßensperren der Polizei anzugucken hat etwas von einer Fahrt in der Geisterbahn: Man gruselt sich kurz und geht dann doch gefasst nach Hause, weil man zu wissen glaubt, dass alles gut wird. Jedes Wahlplakat von Marine Le Pen, an dem wir unterwegs vorbeikommen, ist völlig zerfetzt.

Alternativen: Widerstand oder Demokratie feiern

Irgendwann ist es 19.30 Uhr, nur noch eine halbe Stunde, bis die letzten Wahllokale schließen und wir endlich wissen, wer der achte Präsident oder die achte Präsidentin der Fünften Republik wird. Hat jemand Angst? Anaïs ist sich nicht ganz sicher: „Man weiß ja nie.“ Da ist es wieder, das Brexit-Trump-Gefühl. Felix, 26, der einzig politisch Aktive unter uns, geht das Problem anders an: „Ich hoffe, dass Le Pen unter 40 Prozent bleibt“, meint er, der als Direktkandidat von Bd. 90/Die Grünen in Pirmasens für den nächsten Bundestag kandidiert. „Ich denke schon, dass Macron gewinnen wird, aber es ist auch wichtig, mit wie viel Prozent.“

Kurz vor 20 Uhr starren alle auf den Fernseher. Auf Facebook lädt mich jemand zu einer anderen Wahlparty ein: „Entweder feiern wir das Überleben der Demokratie oder wir organisieren den Widerstand!“ Der Sender TF1 blendet einen Countdown ein. Um 20 Uhr ertönt dramatische Musik, Grafiken zucken wild über den Bildschirm, bevor das Gesicht von Macron auf dem Bildschirm enthüllt wird: Er hat die Wahl gewonnen. Das Sofa kreischt und jubelt – wenn auch nur kurz. „Besser als Le Pen“, meint Anaïs. Was Macron jetzt daraus mache, könne man aber nur schwer einschätzen, weil sein Programm noch nicht sonderlich präzise sei. „Und es ändert sich alles, wenn er dafür bei den nächsten Wahlen keine Mehrheit in der Assemblée nationale bekommt.“ Auch Louis ist nicht besonders glücklich über das Resultat: „Ich bin erleichtert, dass es Macron und nicht Le Pen geworden ist“, sagt er. „Sozial Benachteiligte werden aber mindestens so sehr unter ihm leiden wie unter Hollande, wenn nicht noch mehr.“

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Bild: Theo Müller

Trotz allem – wir trinken auf den Sieg von Macron, und spätestens nach dem vierten Bier vom Discounter erlauben wir uns ein wenig Rührseligkeit: Ist es nicht unfassbar schön, dass wir gerade in einer WG sitzen und über Politik streiten dürfen? Vor ziemlich genau 100 Jahren hätten wir uns vielleicht in den Schützengräben an der Westfront umgebracht. Sich daran zu erinnern ist gerade nur ein wenig aus der Mode kommen.

 

Verhaltene Begeisterung

 

Wir gehen zum Wein über, es ist spät geworden, die Fernsehsender spulen routiniert ihre Wahlberichterstattung ab. Die Gesichter kommen und gehen immer schneller, ohne dass wir als Deutsche mit allen etwas anfangen könnten. Um viertel nach zehn ist einen bizarren Augenblick lang wieder Marine Le Pen zu sehen, von oben gefilmt, wie sie auf der Wahlparty des Front National im Bois de Vincennes beinahe ausgelassen tanzt.

 

Zwanzig Minuten später fangen die Kameras den zukünftigen französischen Präsidenten Macron ein, als er dem Namen seiner Partei alle Ehre macht und in alberner Länge über den Vorplatz des Palais du Louvre marschiert. Dort haben früher die französischen Könige residiert. „Fehlt nur noch ein Feuerwerk“, raunt Louis düster in Richtung Fernseher. Auf der Bühne vor der Louvre-Pyramide schreit Macron irgendwas, dann wird die Marseillaise angestimmt und ein Kind geherzt. „Wollen wir den Fernseher ausmachen?“, fragt jemand.

 

Kurz vor Mitternacht verlasse ich mit den ersten Gästen die Party und mache mich auf den Weg zur Straßenbahn-Haltestelle. Der 8. Mai ist in Frankreich traditionell ein Feiertag – der „Tag des Sieges“. Da geht es eigentlich um den alliierten Sieg gegen Nazi-Deutschland, aber hier und jetzt fühlt er sich an wie ein Tag des halbherzigen Sieges des gesunden Menschenverstandes. Der #LePenNON-Aufkleber auf meiner Handyhülle löst sich mittlerweile auf und hinterlässt überall klebrigen Dreck. Ich werfe ihn in den Müll.

Mehr Europa, mehr Gefühle: 

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