- • Startseite
- • Gender
-
•
Coming-out-Kolumne: Mentale Gesundheit und Konversionstherapien
Als Teenager führte unser Autor ein Online-Tagebuch. Es begleitete seinen langen, harten und oft einsamen Weg zu seinem Coming-out und zu der Person, die er heute ist. In dieser Kolumne schreibt er heute, mit 33, seinem jüngeren Ich die Briefe, von denen er glaubt, dass sie ihm damals geholfen hätten.
Davids Tagebucheintrag aus dem Jahr 2009:
„[…] Vor einigen Jahren war ich für eine Sitzung bei der Psychologin, die mir empfohlen wurde. Sie wollte mich zur Heterosexualität umtherapieren. Es blieb bei einer Sitzung. (Nur ums kurz klarzustellen, ich bin aufgrund von was ganz anderem hingegangen – und wurde auch nicht von irgendwem deswegen hingeschickt. Ich hatte in der Sitzung dann erwähnt, dass ich unglücklich verliebt war und mich nicht von dem losreißen konnte, woraufhin dann eben beschriebenes Ergebnis rauskam.) […]“
Davids heutiger Brief an sein altes Ich:
„Lieber David,
ein trendy Velourssofa, grellorange, auf einem frech gemusterten Teppich, die Wände verziert mit Terrakotta-Schwammtechnik. Schon beim ersten Schritt in den Behandlungsraum ist klar: Diese Frau agiert nicht so wirklich zeitgemäß. Trotzdem hast du Hoffnung, dass sie dir den Weg aus dem Nebel der Traurigkeit weist. Zu diesem Zeitpunkt steckst du tief in Depressionen. Sie haben sich langsam eingeschlichen – mit dem Mobbing und der Angst, verstoßen zu werden. Irgendwann bittest du mal eine Lehrerin, die sich Seelsorgerin nennt, um Rat. Sie diagnostiziert eine „verstimmte Phase“. Depressionen? Nein, dafür hättest du ein zu extrovertiertes und fröhliches Wesen. Cool, Klischeedenken 3000.
Über Jahre denkst du, Schwulsein wäre der Ursprung deiner Probleme. Du fokussierst deine gesamte Energie darauf, diese Tatsache aus Furcht vor unendlicher Schande zu bekämpfen. Als du dich mit Anfang 20 dann endlich akzeptierst, ist das einerseits toll, weil du jetzt endlich anfangen kannst zu leben, andererseits legt das ein unerwartetes Problem offen: Die beschissene Traurigkeit bleibt – und du stehst plötzlich vor einem Dschungel voller Fragen. Wie wird man glücklich? Wie funktioniert eigentlich Schwulsein? Und was macht man mit seiner Zukunft, wenn man jahrelang gedacht hat, man hätte keine?
Du hast dir über Jahre antrainiert, dir für alles die Schuld zu geben
Damals leistest du Zivildienst und hast keinen Plan, was darauf folgen soll. Du lässt im letzten Moment eine Lehrstelle sausen. Der Chef hatte gesagt, sein Geschäftspartner möge „solche Leute“ nicht. Eine neue Dosis Mobbing und das drei Jahre lang? Harter Swipe nach links und fuck you very much. Jetzt spürst du Druck von allen Seiten, aber vor allem von dir selbst. Wenn du schon schwul sein musst, dann willst du wenigstens alles andere richtig machen. Also willst du Bewerbungen schreiben. Aber jedes Mal, wenn du den Laptop aufklappst und nur das Word-Icon siehst, heulst du stundenlang. Sowieso weinst du seit Jahren wahnsinnig oft. Eigentlich jeden Tag und überall. Aus Überforderung, aus Angst, aus Selbsthass, aus Einsamkeit. Heute weiß ich: Du hast dir über Jahre antrainiert, dir für alles die Schuld zu geben – selbst für Dinge, die überhaupt keine Schuldfrage stellen. Die Minderwertigkeitsgefühle sind zu einem riesigen Kraken mutiert, der dich tiefer und tiefer in den Strudel reißt.
Dann sitzt du also im hässlichen Zimmer dieser Frau, schilderst ihr 40 Minuten lang deinen Zustand. Du packst zum ersten Mal komplett aus. Die Verzweiflung, die Zukunftsangst, die Nervenzusammenbrüche, die Panikattacken, die seit Jahren vorhandenen Gedanken, einfach nicht mehr leben zu wollen. Du erwähnst, dass du es endlich geschafft hast, zu deiner Sexualität zu stehen, aber dummerweise für einen Hetero schwärmst und nicht von dieser Fantasie loskommst. Ihre Antwort nach dem kompletten Seelen-Striptease: „Es ist ganz normal, dass man in Ihrem Alter mal verwirrt ist – das kann man mit Umkonditionierung einfach wegtherapieren.“
„Ich bin nicht verwirrt, ich bin sicher.“
Nachdem du ihr gerade erklärt hast, dass du deine Homosexualität endlich akzeptiert hast, schlägt sie dir ernsthaft vor, sie wie eine Krankheit „heilen“ zu lassen. Wie krass ist das? Wir befinden uns im Jahr 2007 und eine scheinbar normale, ausgebildete und zugelassene Psychotherapeutin in einer süddeutschen Kleinstadt hält eine Konversionstherapie nicht nur für möglich, sondern für sinnvoll und lebensverbessernd. Eine Therapieform, die Männer in Depressionen, Angststörungen und sogar den Selbstmord treiben kann. Hätte dieses Gespräch ein Jahr früher stattgefunden, du hättest dieses hirnverbrannte Angebot womöglich angenommen. Aber du antwortest: „Ich habe über 20 Jahre gebraucht, um mich zu akzeptieren und das war ein verdammt harter Weg. Ich bin nicht verwirrt, ich bin sicher.“ Scheiße, bin ich stolz auf dich.
Du hast all deinen Mut dafür zusammengenommen und dann das. Was zum Geier ist da gerade passiert? Besprechen kannst du es mit niemandem – denn bereit für dein Coming-out bist du noch nicht. Du schließt alles wieder in dich ein. Eine Lehrstelle findest du nicht mehr. Dafür schreibst du dich spontan an der Uni ein. Dein Coming-out schaffst du auch und eigentlich sollte jetzt alles laufen. Aber wenn du etwas aus deiner Geschichte lernen solltest, dann dass Verdrängung und Weglaufen nur so mittelmäßig funktionieren. Und du hättest da so einiges aufzuarbeiten: Homophobie – die deines Umfelds und deine eigene –, Mobbing, Schuldgefühle, Scham, Angst, Selbsthass und diese beschissene, immer wiederkehrende Traurigkeit.
Soll ich dir was sagen? Mal wieder bist du damit nicht alleine. Unter LGBT sind Probleme mit mentaler Gesundheit weit verbreitet. Aber auch in der Community ist es ein Tabuthema und selten wird offen darüber gesprochen. In Profiltexten auf schwulen Dating-Plattformen liest du, wie Menschen in Therapie als Psychos verhöhnt werden. Und wie in der restlichen Gesellschaft darf ein „richtiger Mann“ keine Schwächen haben – schon gar keine seelischen. Psychische Erkrankungen sind ein Stigma in einer stigmatisierten Gruppe. Trotzdem liest du immer wieder Studien, die zeigen, dass LGBT häufiger Depressionen oder Angstzustände und sogar ein höheres Selbstmordrisiko haben. Der Grund dafür ist nicht, dass an ihnen, ihrer Sexualität oder ihrem Gender etwas nicht stimmt. Der Grund ist, dass vielen von uns immer wieder in die Fresse geklatscht wird: Du bist anders, falsch, abartig. Das fühlt sich furchtbar an und ist traumatisch.
Wenn du darum gebeten hättest, wärst du in den Genuss einer solchen „Therapie“ gekommen.
Darum macht mich diese Therapeutin in ihrem Terrakotta-Traum im Nachhinein echt wütend. Was ist, wenn jemand diesen geschmacklosen Raum betreten hat, ohne so stark zu sein wie du? Der diesen Dreck geglaubt hat? Und was ist mit den ganzen anderen grausamen Angeboten, die hilfesuchenden Menschen das Märchen von Konversion, also Heilung, vorgaukeln? Du hast doch selber einmal zu Hause eine versteckte Broschüre gefunden, vermutlich von deiner erzkatholischen Großmutter: „Aufklärung über Homosexualität: Homosex ist keine Liebe, Homosexualität ist eine Krankheit.“ Diese Zeilen zu lesen, hat sich wie unfassbarer Betrug angefühlt. Viel schlimmer ist aber, dass ich weiß: Wenn du darum gebeten hättest, wärst du in den Genuss einer solchen „Therapie“ gekommen.
All diese bescheuerten Angebote machen nur eins: Sie bringen dich und andere LGBT vom Weg ab. Sie gaukeln dir vor, dass du etwas sein kannst, was du nicht bist – ob mit Rosenkranz, Elektroschocks oder sonstiger Umkonditionierung. Diese Angebote sind auch 2019 noch Realität in Deutschland. Vor allem sind sie aber eins: Bullshit. Denn eine gute Therapie sollte helfen, zu dir zu finden, dich zu akzeptieren, die Traurigkeit und die Schuldgefühle in den Griff zu bekommen. Sie soll dir helfen, dein Leben gern zu leben.
In ein paar Jahren wirst du tatsächlich einen coolen Therapeuten finden. Du wirst Aha-Momente erleben, neue Perspektiven aufgezeigt bekommen und Werkzeuge an die Hand bekommen, mit denen du den mutierten Kraken wie Jack Sparrow zähmen wirst. Du wirst viel über dich lernen, langsam aber stetig Selbstbewusstsein aufbauen und endlich die Traurigkeit zu großen Teilen abstreifen. Du wirst dir wichtig. Du wirst erkennen, dass du von Anfang an gespürt hast, was du wirklich brauchst.
Das alles heißt natürlich nicht, dass du in Therapie gehörst, weil du schwul bist. Aber ich rate dir: Wenn du Hilfe brauchst, dann hol sie dir. Du musst und kannst nicht alles alleine schaffen. Jeder Mensch, ob homo, hetero oder irgendwo dazwischen, darf schwach sein. Und niemand, wirklich niemand muss sich dafür schämen. Aber achte in Zukunft ganz besonders darauf, dass du bei den richtigen Helfern klingelst.
Liebe Grüße
David“