Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

„Ich wurde gezwungen, jemand zu sein, der ich nie war“

Fotos: Privat / Collage: jetzt.de

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Schon als Kind erhalten wir anhand unseres Geburtsgeschlechts eine gesellschaftliche Rolle: männlich oder weiblich. Dass sich viele Menschen aufgrund von uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen nicht einem der beiden Geschlechter zuordnen lassen, wurde dabei lange ignoriert. Am 08. November 2017 urteilte der Bundesgerichtshof, dass ein drittes Geschlecht eingeführt werden soll. Somit wird Intersexualität nun offiziell anerkannt, was für viele Menschen eine große Erleichterung bedeutet.

Lange schwarze Haare, Oberlippenbart und ein Bizeps, wie ein Fitnessmodel: Wer Christian sieht, würde nie vermuten, dass er als Kind Kleider trug und zum Mädchen erzogen werden sollte. „Ich wurde gezwungen, jemand zu sein, der ich nie war“, sagt der 29-Jährige. „Für mich war immer klar, dass ich ein Junge bin. Ich habe mich wie ein Junge benommen, Fußball gespielt, hatte viele männliche Freunde und habe mich schon immer für Mädels interessiert.“

Christian

Das ist Christian.

Foto: privat

Die Wahrheit war zunächst ein Schock

Als er in der sechsten Klasse ist, nimmt ihn sein Vater eines Tages beiseite und klärt auf: „Für mich warst du schon immer ein Junge, du bist auch als Junge geboren worden.“ Für Christian, der damals noch Christiane hieß, ist das ein Schock. Sein Vater erklärt ihm, wie es dazu kam, dass aus ihm ein Mädchen wurde. Weil Christians Geschlechtsteil nach der Geburt anders aussah als üblich, seien sie mit ihm zum Universitätsklinikum Tübingen gegangen. Dort wurde der kleine Junge analysiert: Zunächst optisch, dann machte man eine Chromosomenanalyse, um zu überprüfen, ob weibliche X-Chromosome oder männliche XY-Chromosome vorliegen. „Bei mir kamen XY-Chromosome raus, also ein männlicher Chromosomensatz“, erklärt Christian. „Man wusste also eigentlich seit den Tests, dass ich ein Junge war.“ Sicher waren sich die Ärzte scheinbar trotzdem nicht. Deshalb wollte man noch einmal in den Bauchraum schauen.

„Sie haben mir den Bauch ausgehend von der Blase aufgeschnitten, um zu schauen, wie es in mir drin aussieht. Was sie dort gesehen haben, haben sie dann aber falsch gedeutet“, wirft Christian heute den Ärzten vor. Im Bauchraum lag damals eine Prostata, die wurde jedoch nicht als diese erkannt und stattdessen als Vagina interpretiert. „Meine Eltern wurden dann zu der OP gedrängt, man wollte, dass alles vom Optischen her passt. Dabei waren keine weiblichen Geschlechtsmerkmale vorhanden.“ Man könne sich sein damaliges Geschlechtsteil eher wie eine Anomalie vorstellen, sagt Christian heute. „Es war einfach ein bisschen verändert. Die Harnröhre kam zwischen den Hodensäcken heraus und nicht durch den Penis. Sie war versetzt. Das hätte man operativ sicher einfach ändern können. Stattdessen haben die Ärzte mich stundenlang operiert und trotzdem habe ich nun kein funktionsfähiges Geschlechtsteil. Dadurch haben sie mein Leben zerstört.“

Hätte es damals schon die Möglichkeit zur Eintragung eines dritten Geschlechts gegeben, dann wäre seinen Eltern wohl der Druck genommen worden, ihr Kind einem Geschlecht zuordnen zu müssen, meint Christian. „Dank des Urteils kann jetzt ein drittes Geschlecht eingetragen werden. Die Kinder können dann später selbst entscheiden, ob sie dieses behalten möchten oder sich als männlich oder weiblich sehen. Dadurch werden auch viele Zwangs-Operationen entfallen und die Kinder können ein glückliches und selbstbestimmtes Leben führen“, sagt er.

Genitalplastische Eingriffe sind eine Menschenrechtsverletzung

Wie viele intersexuelle Menschen in Deutschland leben, ist nicht genau bekannt. Der Lesben- und Schwulenverband spricht von 100.000, andere Selbsthilfeverbände von 160.000, insgesamt reichen die verschiedenen Schätzungen von 16.000 bis zu 800.000 Personen, was auch mit der nicht einheitlichen Definition von „Intersexualität“ zu tun hat. Doch unabhängig davon, wie viele es sind: Wer betroffen ist, dem geht es oft ähnlich wie Christian. Denn Kinder mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen werden häufig zwangsoperiert, um ihnen ein eindeutiges, der Norm entsprechendes Geschlecht zu geben und ihnen so das Leben zu erleichtern. Häufig wird dadurch aber das Gegenteil erreicht. Allein zwischen 2005 und 2014 soll es durchschnittlich mehr als 1700 solcher Operationen pro Jahr gegeben haben. Viele Selbsthilfeverbände für Intersexuelle Menschen verurteilen diese Eingriffe mittlerweile als Menschenrechtsverletzung.

Auch Christian kritisiert die Vorgehensweise und stellte sogar seine behandelnde Ärztin von damals zur Rede. „Sie hätte mir so viel Leid ersparen können. Man sollte kleine Kinder nicht einfach operieren. Warum lässt man sie nicht später selbst entscheiden, wer sie sein wollen?“, fragt er. Die Ärztin sagte ihm im Gespräch, die Operation durchzuführen sei eine Anweisung aus der Chefetage gewesen und entschuldigte sich bei ihm. „Damals sagte sie meinen Eltern, dass ich ein glückliches Mädchen sein würde. Aber ich war nie glücklich. Ich habe unter dieser Rolle gelitten. Das kann kein Arzt der Welt mir entschädigen“, sagt Christian heute.

„Ich wollte springen und alles beenden“

Wie sehr die Zwangs-Operation in sein Leben eingegriffen hat, macht Christian an dem Moment fest, in dem er dieses beinahe beendet hätte. „Natürlich war ich als Kind auch viel mit Mobbing konfrontiert. Gerade in der Findungsphase der Pubertät nimmt man sich das sehr zu Herzen. In der siebten Klasse wollte ich dann bei uns im Ort ins Wasserkraftwerk springen und alles beenden.“ Christian kletterte über das Geländer und starrte auf die sich drehenden Turbinen. Zum Glück kam sein jüngerer Bruder vorbei, sprach ihn an und hielt ihn so davon ab, zu springen. Durch die Unterstützung seiner Freunde hat Christian mit den Jahren wieder ein Selbstwertgefühl aufgebaut. „Mir wurde klar: Der Körper ist nur eine Hülle, so eine Art Kokon. Wichtig ist das, was drinsteckt. Das macht den Menschen doch erst zum Menschen.“

Talisha lebte 27 Jahre als Mann

Auf Fotos post sie selbstbewusst, den Blick in die Kamera gerichtet. Die Bilder zeigen eine starke Frau, die weiß, was sie will und wer sie ist. An diesem Punkt ist Talisha jedoch noch nicht lange. 27 Jahre ihres Lebens wuchs die heute 32-Jährige als Mann auf. Dabei war ihr schon lange klar, dass sie eigentlich eine Frau ist. Zunächst identifizierte sie sich allerdings als transsexuell. „Lustigerweise habe ich erst nach meinem Outing als Transsexuelle erfahren, dass ich inter bin“, erzählt sie.

Damals bekam sie weibliche Hormone, die ihre Brüste jedoch schmerzhaft anschwellen ließen. Als sich dann noch ihre Hirnanhangdrüse vergrößerte, wurde Talisha in die Röhre geschickt. „Dabei kam raus, dass ich Organe zuviel habe – also männliche und weibliche. Im Zuge einer Operation wollten die Ärzte mir die weiblichen Organe entfernen. Ich wollte aber nicht, dass sie einfach alles, was ihrer Meinung nach nicht gebraucht wird, aus mir rausräumen. Ich bin doch kein Sommerschlussverkauf!“

Trotz des Vorhandenseins männlicher und weiblicher Geschlechtsmerkmale, fühlt sich Talisha eindeutig als Frau. Schon länger lebt sie so, bald steht endlich die geschlechtsangleichende Operation an, die auch das letzte Zeichen ihrer Intersexualität beseitigen wird. „Die Angleichung des Geschlechts ist mit viel Ärger verbunden. Vor allem in meinem Fall, da meine Intersexualität nicht diagnostiziert wurde und ich somit lange wie ein Transgender behandelt wurde“, erklärt sie.

Talisha

Das ist Talisha.

Foto: privat

Seit dem Jahr 1981 ermöglicht das „Transsexuellengesetz (TSG)“ Menschen, ihre Geschlechtszuordnung zu ändern. Die Änderung der Personalien dauert einige Monate. Wer sein Geschlecht operativ angleichen will, muss sich vorher einer eineinhalbjährigen psychologischen Behandlung unterziehen und mindestens genauso lange in der entsprechenden Rolle gelebt haben, wie trans-infos schreibt. So auch Talisha. Ihre geschlechtsangleichende Operation ist für März nächsten Jahres angesetzt. Auch wenn der Eingriff mit Risiken verbunden ist, hat sie keine Angst. „Um untenrum endlich ‚richtig‘ zu sein, würde ich noch ganz andere Dinge in Kauf nehmen“, betont sie.

Viele kommentieren online: „Die sind doch krank“

Während Talisha in ihrem privaten Umfeld so akzeptiert wird, wie sie ist, erlebt sie vor allem online immer noch Ablehnung gegenüber Intersexuellen. Die Dokumentation „Männlich, weiblich - oder was? Leben mit dem dritten Geschlecht“, die bereits beim WDR ausgestrahlt wurde und in der auch Talisha zu sehen ist, wurde im Netz heiß diskutiert. „Braun angehauchte Typen mit dubiosen Usernamen haben online so etwas geschrieben wie ‚Alle vergasen‘ oder ‚Die sind doch krank‘ “. Sie hofft, dass die offizielle Einführung des dritten Geschlechts hilft, die Akzeptanz zu steigern. „Hoffentlich macht es den Leuten klar, dass ihr Schwarz-Weiß-Denken so nicht richtig ist“, sagt Talisha.

Für viele Intersexuelle und Transsexuelle ist es oft nicht leicht, zu sich zu stehen. Talisha hat einige Bekannte, die inter und trans sind. Sie unterstützt sie dabei, zu dem Menschen zu werden, der sie wirklich sind, und empfiehlt ihnen gute Ärzte und Psychologen. „Und wenn sie dort nicht allein hingehen wollen, dann komme ich natürlich mit.“

Christian und Talisha haben mittlerweile zu sich selbst gefunden. Ihnen ist klar, dass die Welt nicht nur rosa und blau ist, sondern bunt. Zeit, dass das auch andere Menschen verstehen. Das Gesetz zum dritten Geschlecht ist dabei ein entscheidender Schritt in die richtige Richtung.

Mehr Gender-Themen:

  • teilen
  • schließen