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Mehr Sex in die seriöse Tagespresse!

Illustration: Katharina Bitzl

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Als Frau, die über Sex schreibt, bin ich es nicht anders gewöhnt. Ständig diese Verpiss-dich-du-Fotze-Mails. Trolle, die mir moralische Verkommenheit attestieren oder gleich den Untergang des Abendlandes in die Schuhe schieben. Hater, die finden, ich gehöre gefeuert. Es ist quasi fester Bestandteil meines Jobs, mehrfach täglich den Kopf zu schütteln und vor lauter Ratlosigkeit über die Welt zu wichtigeren Dingen überzugehen. Zu Texten über Sex, zum Beispiel.

Einen dieser Texte knöpfte sich kürzlich auch Harald Martenstein in seiner Kolumne fürs Zeit-Magazin vor. Schreiben kann er ja, dachte ich mal wieder voll der Bewunderung für den älteren Herrn mit dem Bart. Aber was er da schrieb! Leise Zweifel, was denn so ein Artikel über Masturbation in der seriösen Tagespresse aka auf sz.de verloren habe, wurden in ihm laut. Die Feststellung, dass meine Pussy mir gehöre, fand er obsolet („Wer wollte dies ernsthaft bestreiten?“) und überhaupt, witzelte er, handle der von mir beschriebene Selbstversuch von der „Utopie des grenzenlosen Individualismus, von gebrochenen Tabus, dem neuen Journalismus, von Egomanie und vom Scheitern der Utopie an der menschlichen Natur.“ Fazit: Was die „junge Autorin“ da macht, braucht kein Mensch. Möge sie doch bitte aufhören damit.

Weil diese Bullshit-Ladung diesmal nicht plump von irgendeinem ungewaschenen 4chan-Bewohner daherkam, sondern vom Grandseigneur der deutschen Kolumnisten-Szene, fühlte ich mich – da will ich ehrlich zu meinen egomanen Tendenzen stehen – sogar ein wenig geschmeichelt.  Also habe ich beschlossen, nicht wie sonst ratlos den Kopf zu schütteln und einen weiteren Text über Sex zu produzieren. Sondern zur Abwechslung einen darüber, warum wir noch lange nicht genug über Sex geschrieben und geredet haben.

Das Bewusstsein für sexuelle Übergriffigkeit wächst – aber es gibt noch immer Menschen, die das Problem negieren

Wer die letzten Monate nicht unter einem Stein verbracht hat, wird das Offensichtliche mitbekommen haben: Sexuelle Belästigung beziehungsweise Übergriffe durch Männer erleben in Deutschland sehr  viele Frauen. Mehr als jede Dritte hat hier seit ihrem 15. Lebensjahr mindestens einmal sexuelle oder körperliche Gewalt erfahren, ist also getreten, geohrfeigt, begrapscht, genötigt oder zum Sex gezwungen worden. Das belegt eine EU-Studie aus dem Jahr 2014.

Wildfremde Kerle, die sich im Club ungefragt ihren Penis an weiblichen Hintern harttanzen wollen, sind hier noch gar nicht eingerechnet. Oder dass man, sollte man auf unflätige Weise auf sein üppiges Dekolleté angesprochen werden, selbst schuld sei – weil: schlampig angezogen und so. Oder dass Typen einem völlig entkontextualisiert vorschlagen können, mal eben ihren Pimmel rauszuholen. Und nein, nicht nur Weinstein kommt auf solche Ideen.

Während also das öffentliche und mediale Bewusstsein für sexuelle Übergriffigkeit wächst, gibt es tatsächlich noch immer Menschen, die das Problem bewusst negieren. Dieselben Menschen forderten schon im #Aufschrei-Kontext, man möge sich doch bitte nicht so anstellen. Es sei doch alles nur ein Spiel, wenn auch ein kompliziertes. Und heute, wo jeder Tag mit einer Vergewaltigungs- oder Belästigungsenthüllung beginnt, fragen sie ernsthaft, wer bitte die Eigentumsverhältnisse einer Pussy bezweifeln würde?

 

Für diese Menschen sei an dieser Stelle noch ein Mal explizit erklärt: Es gibt sehr, sehr viele Männer da draußen, die das tun. Jeden Tag. Und das sind nicht nur die Typen, die in Indien leben und Gruppenvergewaltigungen in Bussen normal finden. Sondern Männer, mit denen wir im ach so kultivierten Europa jeden Tag zu tun haben. Männer, die sich mit Sexisten beziehungsweise Tätern verbünden, indem sie so tun, als sei das alles kein strukturelles Problem, sind nicht viel besser. Mit anderen Worten: Männer wie Sie, Herr Martenstein.

 

Aber so weit brauchen wir gar nicht erst zu gehen. Verharren wir doch kurz bei der Idee, junge Autorinnen sollten sich in der seriösen Tagespresse über ihre Geschlechtsorgane und das, was sie damit so alles anstellen, lieber ausschweigen. Weil kein Hahn danach kräht – und weil Martenstein altersweise findet: „Auch gute Sachen können durch Übertreibung in den Irrsinn kippen“. Wenn man also der Meinung ist, (weibliche) Sexualität, erst recht die überschwängliche, gehöre nicht öffentlich erzählt, drängt sich mir persönlich die Frage auf: Gehört man dann nicht de facto zu denjenigen, die Frauen die Rechte an ihrer eigenen Pussy aberkennen? Ich weiß. Martenstein würde dementieren. Über sein Geschlechtsteil verfügen und drüber reden sind völlig unterschiedliche Dinge, würde er sagen.

 

Wann immer jemand behauptet, dass wir zu viel über Sex reden, beweist das, dass wir noch lange nicht genug darüber geredet haben

 

„Kaum erhebt eine junge Frau das Wort, wird ihr auch schon der Mund verboten“, schreibt Laurie Penny in Unsagbare Dinge. Oder aber sie wird der Lächerlichkeit preisgegeben – ein Machtinstrument übrigens, dessen sich Menschen schon immer bedienen, um sich über andere zu erheben.

 

Zugegeben, an dieser Stelle wäre es leicht, in die Theorie von patriarchalen Unterdrückungsmechanismen abzudriften. Ich will sie aber lieber smashen, als über sie zu referieren. Deshalb: Wann immer jemand behauptet, dass wir zu viel über Sex reden, beweist das nur, dass wir noch lange nicht genug darüber geredet haben. Es bedeutet, dass dieses Thema noch nicht so alltäglich und leicht ist, dass die Menschen es mit einem milden Lächeln abtun könnten, anstatt sich darüber zu ereifern.

 

Dabei sind es gerade die Unterdrückung und Tabuisierung von Sexualität, die sich oft in Übergriffigkeit ihr Ventil suchen. Die einzige Lösung ist wie immer: laut sein. Drüber reden. Und schreiben. Sich nicht mundtot machen lassen. Nicht nur als Opfer von sexueller Gewalt aufstehen, sondern auch als sexuell aktive, selbstermächtigte Gegenpole. Nur so können neue kollektive Narrative von Sexualität und einem gleichgestellten Umgang zwischen den Geschlechtern entstehen. Narrative, die es unmöglich machen, dass ein (bärtiger) Mann, der in seinem eigenen Roman als der Onanie zugetanes Alter Ego erscheint, eine Frau dafür in die Ecke stellt, dass sie über Masturbation schreibt. Oder, um es hoffnungsvoll mit Oprah zu sagen: „Time's up!“

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