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"Entsetzt, wie Europa mit den Flüchtlingen umgeht"

Katharina Bitzl

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 "Menschen, denen es gut geht, werden keine Selbstmordattentäter"

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Imri, 29, aus Israel, arbeitet als Selbstständiger in den USA

"Als ihr mich das letzte Mal befragt habt, habe ich gesagt, dass ich die offenen Grenzen in Europa schätze, dass nicht kontrollierte Migration aber auch zu Kulturkonflikten führen kann. Ich denke, meine Vorhersage hat sich bestätigt. Kein europäisches Land hat bislang eine Lösung für die Flüchtlingskrise gefunden – und in Europa wählen die Menschen rechts, weil sie Angst vor dem Fremden und vor allem dem Islam haben.

Offene Grenzen finde ich trotzdem weiterhin wichtig. Die EU ist nur eine starke Gemeinschaft geworden, weil sie wirtschaftlich zusammenhält und das geht nun einmal am besten ohne Handelshindernisse. Wie eine so große Staatengemeinschaft jedoch in Zukunft die Sicherheit ihrer Bürger gewährleisten will, weiß ich nicht. Es ist unrealistisch, die europäischen Außengrenzen abriegeln zu wollen – doch über eine offene Grenze konnte einer der Pariser Attentäter problemlos nach Belgien verschwinden.

Mir machen vor allem die Vorurteile Sorgen, die man aus Europa immer häufiger liest und hört. Rechte Organisationen kriminalisieren Immigranten, obwohl Statistiken zeigen, dass diese nicht häufiger straffällig werden als Menschen, die in der EU geboren und aufgewachsen sind. Flüchtlinge, die oft nicht so gute Chancen haben und schlecht bezahlte Jobs annehmen müssen, auf die sonst niemand Lust hat, werden ausgegrenzt, anstatt dass ihnen geholfen wird. So viele Immigranten sind einfach gute Menschen, die eine bessere Zukunft und Asyl in der EU verdient haben. Ich denke, die Politiker sollten stärker nach Möglichkeiten suchen, wie diese Menschen in die Gesellschaft integriert werden können.

Ich bin mir sicher, dass die Europäer noch weitere Terroranschläge erleben werden. Es ist deshalb wichtig, vor allem auch Immigranten eine gute Bildung und Wohlstand zu ermöglichen. Denn Menschen, denen es gut geht, werden keine Selbstmordattentäter."

Protokoll: Nicola Staender

 "Europa ist mit den Flüchtlingen überfordert"

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Seza, 25, aus dem Libanon, arbeitet momentan bei der UNHCR in Jordanien

„Eigentlich hat sich mein Bild von Europa in den vergangenen zwei Jahren nicht grundlegend verändert. Europa inspiriert und steht immer noch für eine bessere Zukunft, Schönheit. Kunst und Literatur. Deshalb ist es für mich, egal wie viele Terroristen jetzt seine wunderbaren Städte attackieren, immer noch ein Ort, an dem ich gerne leben und arbeiten würde.

Dieses positive Bild von Europa hat aber eben auch dazu geführt, dass so viele Menschen ohne Hoffnung aus der ganzen Welt dort leben wollen. Und da schlägt sich nieder, was ich vor zwei Jahren bereits gesagt habe: Durch eure arrogante Sicht auf den Rest der Welt, dieses Gefühl, dass ihr etwas Besseres seid, schafft ihr euch langfristig Probleme.

Bisher habt ihr das ignoriert. Habt über den Terror und die Kriege im Mittleren Osten gesagt: „Das sind eure Probleme, löst das selbst“. Aber jetzt sind diese Bedrohungen auch in Europa angekommen und alle sind überfordert. Ich spüre das auch im Gespräch mit Freunden: Da sind alle entsetzt, wie schlecht Europa mit der Flüchtlingssituation umgeht – insofern man da überhaupt von einer europäischen Politik sprechen kann, denn jedes Land regelt das ja anders.  

Ich will damit nicht sagen, dass eine oder zwei Millionen Flüchtlinge keine große Zahl seien, im Gegenteil. Aber denkt doch einmal darüber nach, wie das für uns im Libanon ist? Wir sind ein Nachbarland von Syrien, mittlerweile ist eine von fünf Personen die bei uns lebt ein Flüchtling – dabei haben wir nur fünf Millionen Einwohner und weitaus weniger ökonomische und soziale Ressourcen als ihr! Es war absehbar, dass wir das langfristig nicht alleine tragen können.

Die Lösung von all dem kann dabei nicht sein, die Grenzen zu schließen. Stattdessen müsst ihr lernen zu verstehen, dass die Menschen genau vor diesem Terror, den ihr jetzt fürchtet, geflohen sind. Weil dieser Terror seit Jahren ihr Alltag ist. Die einzige langfristige Lösung ist es, in diesen Regionen wieder Frieden zu stiften, denn dann können all die Flüchtlinge auch wieder nach Hause gehen. Und glaubt mir – sie wollen nach Hause!"

Protokoll: Nadja Schlüter

"Dieses Gefühl der Freiheit ist für mich immer noch das Tollste an der EU"

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Olga, 29, Fotografin aus Moskau

"Meine letzte Auslandsreise war im November. Ich war bei einem Fotofestival in Paris, als ein Freund eine SMS schrieb: “Es wird geschossen. Sei vorsichtig.” Den Rest des Abends klebte ich am Fernseher und konnte es kaum glauben: Eine Terrorattacke? Hier? Ich hatte Paris immer als viel sicherer als Moskau empfunden.

Viele Russen sagten damals: „Das war ja klar. Wenn man Flüchtlinge reinlässt, werden auch Terroristen drunter sein. Selbst schuld.“ Aber ich bin anderer Meinung. Die Europäische Union wäre für mich nicht mehr dieselbe, wenn sie Menschen in der Not Hilfe verwehren würde. Hilfsbereitschaft gehört für mich zur EU – und das Festhalten an seinen Prinzipien.

Ich war erstaunt, dass die Franzosen nach den Anschlägen auf die Straßen gegangen sind, mit ihren Familien, mit Kindern. In Russland hätten hysterische Mütter ihre Sprösslinge zuhause eingeschlossen. Nach den Sprengstoffanschlägen in der Moskauer U-Bahn 2010 habe ich selbst zwei Wochen lang keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzt. Aber inzwischen habe ich verstanden, dass Terror genau das will: Angst verbreiten, über das Leben der Stadt bestimmen. In Frankreich habe ich gesehen, dass die Menschen sich ihre Freiheit nicht nehmen ließen.

Dieses Gefühl der Freiheit ist für mich immer noch das Tollste an der EU: Freies Sprechen, Denken, vor allen Dingen Reisen. Ich hoffe, die Anschläge in Paris und Brüssel werden daran nichts ändern. Aber ich verstehe auch, dass es jetzt mehr Grenzkontrollen gibt. Es ist eine neue Situation, Europa steht für mich nicht mehr für Sicherheit.

Ein allgemeines Gefühl der Bedrohung blieb nach den Attentaten zurück: Wenn man in der EU nicht mehr geschützt ist, dann ist man das nirgendwo."

Protokoll: Wlada Kolosowa

Hier mitmachen bei der Umfrage "Generation What":

"Ich habe keine Angst davor, dass in vielen Ländern der EU plötzlich rechte Parteien gewählt werden."

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Natascha, 26, Diplom-Pflegefachfrau in einem Alterszentrum in der Schweiz

 

"Vor zwei Jahren habe ich noch gesagt, dass ich die Europäische Union als etwas Machtvolles wahrnehme, als eine Region, die Wohlstand und Gemeinschaft ausstrahlt. Das ist heute nicht mehr so sehr der Fall. Denke ich an die EU, sehe ich Chaos. Mein Sichtwandel hat mit der Griechenlandkrise begonnen, als die EU nicht wusste, wie sie dem Land finanziell helfen sollte, und wurde durch den Umgang mit den Geflüchteten verstärkt. Aus der Schweiz betrachtet wirkt die EU verletzlich und angreifbar, auch wegen der Terroranschläge, die 2015 und 2016 kurz hintereinander in Paris und Brüssel verübt wurden.

Die steigende Zahl der Geflüchteten oder den Krieg in Syrien mache ich für das Chaos oder den Terror nicht verantwortlich. Vielmehr gibt es einfach noch keine politische Lösung und die unterschiedlichen Nationen sind sich uneins. Ich würde mir von der EU genau wie von der Schweiz wünschen, dass sich die Politik klar humanistisch positioniert und mehr Hilfesuchende aufgenommen werden. Denn: Asylrecht ist ein Menschenrecht. Personen, die um ihr Leben, ihre Familie, ihren Körper oder ihre Freiheit Angst haben, muss geholfen werden. Ich würde mir auch wünschen, dass die EU und die Schweiz stärker in humanitäre Hilfe investieren, um die Ursachen von Krieg und Gewalt zu verhindern.

Die Medienberichte innerhalb den vergangenen Monate und auch der Rechtsruck innerhalb vieler europäischer Länder haben mich in meiner Meinung nur bestärkt. Und ich kenne viele junge Leute, die denken wie ich. Deshalb habe ich auch keine Angst davor, dass in vielen Ländern der EU plötzlich rechte Parteien gewählt werden. Solange es immer wieder Demos gegen Fremdenfeindlichkeit gibt und Geflüchtete willkommen geheißen werden, bin ich zuversichtlich, dass die EU offener und toleranter aus dem Chaos heraustreten wird, als es im Moment vielleicht scheint."

 

Protokoll: Nicola Staender

Mehr zu Europas größter Jugendstudie findest du

in unserem Schwerpunkt zu Generation What.

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