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„Nur weil ich 100 Kilo abgenommen habe, ist mein Leben noch kein Ponyhof“

Foto: Eckard Albrecht

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Jana Crämer leidet seit ihrer Jugend an der Essstörung Binge-Eating. Noch vor wenigen Jahren wog sie fast 180 Kilogramm. In ihrem Debütroman „Das Mädchen aus der 1. Reihe“ hat sie ihre Erfahrungen verarbeitet. Inzwischen hat sie ihr Körpergewicht um 100 Kilogramm reduziert. Als Bloggerin, Podcasterin und Influencerin spricht sie offen über ihre Krankheit. Mit ihrem besten Freund, dem Musiker Batomae, geht sie regelmäßig auf Konzert-Lesereisen und besucht Schulen in ganz Deutschland, um über Essstörungen aufzuklären. Mit ihrem neuen Buch „Unvergleichlich Du! Wie du deine beste Freundin wirst“ will sie junge Menschen ermutigen, sie selbst zu sein. Wir haben mit Jana über Selbstliebe, Body Positivity, Musik und ihr neues Buch gesprochen.

jetzt: „Hallo, ich bin Jana und ich bin essgestört.“ So stellst du dich auf deinem Blog vor. Dabei bist du viel mehr als das: Du bist Autorin, Bloggerin und Podcasterin. Trotzdem ist deine Essstörung ein wichtiges Thema, über das du offen sprichst. Was hat dich dazu bewegt, mit diesem Thema an die Öffentlichkeit zu treten?

Jana: Das war, um ehrlich zu sein, gar nicht so freiwillig. Ich habe lange Zeit ein Doppelleben geführt. Ich war Managerin einer Band und habe in der Zeit 180 Kilo gewogen, weil ich heimlich alles in mich reingestopft habe. Ich habe versucht, den ganzen Druck, den ich in meinem Leben hatte, mit Essen auszugleichen. Je voller mein Magen war, desto weniger Platz war da für Gefühle. Auf Tour hatte ich nicht die Möglichkeit, meiner Sucht nachzugehen. In der Zeit habe ich immer wieder mit meinem besten Freund Batomae gestritten – er war der Bassist der Band. Irgendwann habe ich es nicht mehr ertragen, dass er sich selbst die Schuld an unseren Konflikten gibt. Also habe ich mein Leben aufgeschrieben und mich ihm in einer E-Mail anvertraut. Ab diesem Moment war dieses ganze Versteckspiel von jetzt auf gleich vorbei, weil es zumindest schon mal einen Menschen gab, der alles von mir wusste.

Das muss sehr befreiend gewesen sein …

Total! Ich hätte nie gedacht, dass Schreiben so gut tut. Ich habe das vorher nie als Möglichkeit gesehen, mir wieder Luft zum Atmen zu holen. Schreiben war für mich in der Schule die Hölle. Aber in dem Moment, als ich das aufgeschrieben habe, was mich so sehr belastet hat, war das der erste Schritt meiner Therapie. Das war wohl das Wichtigste, was ich in meinem Leben je gemacht habe. Mein bester Freund hat unglaublich toll reagiert. Er hat mich dann auch ermutigt, mein Leben als Buch zu veröffentlichen. Und dann ging es los. Auf einmal war dieses Thema so präsent. Ich wollte mutig sein für alle, die ihren Mut noch nicht gefunden hatten. Seitdem ist es für mich so normal geworden, darüber zu sprechen. 

„Ich habe Nacktfotos von mir online gestellt, um zu zeigen, dass eine Essstörung Narben hinterlässt“

Gab es trotzdem Momente, in denen du den Schritt an die Öffentlichkeit bereut hast?

Einmal, ganz kurz, aber nur für zehn Minuten. Ich habe Nacktfotos von mir online gestellt, um zu zeigen, dass eine Essstörung Narben hinterlässt – nicht nur auf der Seele, sondern auch am Körper. Ich wollte wachrütteln und zeigen: Nur weil ich jetzt 100 Kilo abgenommen habe, ist mein Leben noch kein Ponyhof. Als ich die Bilder online gestellt habe, gab es unfassbar viele schöne Reaktionen. Aber es gab eine Reaktion, die mir sehr weh getan hat. Eine Frau hat unter das Foto geschrieben: „Wer sich so zeigt, hat es verdient, vergewaltigt zu werden. Sie sollen dich finden und dich so lange vergewaltigen bis du blutend zu Boden gehst.“ Da habe ich mich dann für zehn Minuten gefragt, ob dieser Mut richtig war oder ob ich damit nicht zu weit gegangen bin. Aber das war tatsächlich der einzige Moment. Natürlich werde ich manchmal angefeindet. Aber wenn sich nach unseren Konzertlesungen Schüler weinend in den Armen liegen, denke ich jedes Mal: Dafür lohnt sich das alles auf jeden Fall! 

Du hast dir erst spät professionelle Hilfe gesucht. Inwiefern hat dir deine Therapie weitergeholfen?

Mein bester Freund und ich haben lange versucht, das alles alleine in den Griff zu bekommen. Ich wollte keine Therapie. Ich habe immer gedacht, dass ich keine Therapie brauche und dass ich die Zeit des Psychologen gar nicht verdient habe. Aber irgendwann sind Batomae und ich zu dem Entschluss gekommen, dass wir professionelle Unterstützung brauchen. 2017 habe ich dann eine tiefenpsychologische Therapie angefangen. Das hat echt eine Menge gebracht. Inzwischen ist die Therapie eine Art Auszeit für mich geworden. Wenn ich da liege, dann geht es nur um mich und meine Gedanken. Ich kann nur jedem raten, eine Therapie zu machen. Es tut nicht weh, es tut gut und es hilft weiter.

Am 25. Mai ist dein zweites Buch erschienen. Es ist ein Mitmach- und Mutmach-Buch. Was erwartet die Leser*innen?

Wenn ich es ganz grob herunterbreche, ist es ein Buch darüber, wie man Freundschaft mit sich selbst schließt. Wie man versteht, wer man ist und warum man so ist. Und wie man es schaffen kann, seinen Blickwinkel zu drehen und gut zu sich zu sein. Es hat lange gebraucht, aber inzwischen bin ich sehr glücklich mit mir. Wir haben alle verdient, glücklich zu sein. Mein Buch soll wie eine beste Freundin aus Papier sein, die dir sagt, wie toll du bist und aufzeigt, was du alles an dir schätzen solltest. 

„Tatsächlich haben mir auch sehr viele Jungs geschrieben, dass es ihnen geholfen hat

Musik hat für dich ja offenbar einen ganz besonderen Stellenwert. Du warst Musikmanagerin und mit deinem besten Freund Batomae gehst du auf Konzert-Lesereisen. Zu deinem neuen Buch gibt es Playlists auf Spotify. Welche Chance siehst Du in der Verbindung von Musik und Literatur?

Ich finde, wo Worte enden, beginnt die Musik. Musik ist ein Gefühlsbooster bei mir. Es gibt für jede Stimmung einen passenden Song. Für mich ist das immer schön zu sehen bei den Konzertlesungen. Wenn ich mit dem gesprochenen Wort aussetze, aber dafür die Musik einsetzt, dann ist das der Moment, in dem das Publikum die Emotion rauslassen kann. Es ist unfassbar gut, dass sich das immer abwechselt. So kann auch ich mal durchatmen. Denn mir kommen nicht selten bei den Konzertlesungen auch die Tränen. Das ist jedes Mal wie Therapie. Es tut jedes Mal verdammt weh.

Im Buchtitel heißt es ja: „Wie du deine beste FreundIN wirst“ Würdest du sagen, dass Selbstakzeptanz ein Thema ist, mit dem vor allem junge Frauen zu kämpfen haben?

Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass Männer das ganz genauso haben. Aber ich bin ja selbst eine Frau. Deshalb habe ich aus einer weiblichen Perspektive geschrieben. Ich weiß, was in uns vorgeht und was mir geholfen hat. Aber tatsächlich haben mir auch sehr viele Jungs geschrieben, dass es ihnen geholfen hat. Da muss ich mich bei allen Jungs entschuldigen, dass das Buch tatsächlich eher für Mädchen geschrieben ist. Ich freue mich über jeden, der da etwas für sich rauszieht. Aber tatsächlich ist das auch eine Überlegung, mal einen Band für Jungs und Männer zu machen, denn die haben es nicht unbedingt leichter als wir Frauen. 

„Wenn man sich selbst liebt, dann sollte man etwas dafür tun, dass der Körper gesund ist, sodass man sich möglichst lange lieben kann

Selbstoptimierung ist ja auch auf Social Media ein großes Thema. Seit einigen Jahren findet man dort nicht mehr nur superschlanke Models und Fitness-Blogger*innen, sondern auch Gegenbewegungen wie Body Positivity. Wo siehst du die Gefahren und die Grenzen dieses Trends?

Body Positivity, so wie es im Ursprung gemeint war, finde ich super. Aber dieser Hashtag wurde auch missbraucht. Von Menschen, die sich dann mit 180 Kilo hinstellen und sagen: Ich liebe meinen Körper. Das mag sein, aber der Körper erträgt diese falsche Liebe nicht. Unser Körper ist nicht dafür gemacht, dass wir bei jeder Treppenstufe nach Luft schnappen. Unsere Gelenke sind nicht dafür gemacht, 180 Kilo zu tragen. Man kann sagen: Ich liebe mich. Das finde ich toll. Aber wenn man sich selbst liebt, dann sollte man etwas dafür tun, dass der Körper gesund ist, sodass man sich möglichst lange lieben kann. Wenn etwas zu extrem ist, ist es nie positiv. 

Mit Batomae besuchst du auch regelmäßig Schulen, um unter anderem über Essstörungen aufzuklären. Wie hast du deine eigene Schulzeit erlebt?

Ich erinnere mich an eine ganz dramatische Situation: Im Biologieunterricht musste ich nach vorne gehen und meinen BMI ausrechnen. Der war natürlich alles andere als im grünen Bereich. Das war wirklich grausam. Ich finde es wichtig, dass wir uns diesem Thema auf eine einfühlsame Art und Weise zuwenden. Meine Schulzeit war nicht schön. Ich hätte mir auch gewünscht, dass jemand an unsere Schule kommt und uns zeigt, dass Schwächen okay sind und dass man sich jedem Thema nähern kann, ohne einander vorzuführen, klein zu machen und sich zu vergleichen.

Bist Du inzwischen deine beste Freundin geworden?

Ja. Ich würde wirklich sagen, dass ich mir ganz, ganz nah gekommen bin. Ich behandele mich so, wie ich meine beste Freundin behandeln würde. Ich gebe Acht auf mich. Das ist für mich ein ganz neues Gefühl. 

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