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Corinne ist 23 und HIV-positiv

Foto: privat Bearbeitung: jetzt

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Corinne ist 23 Jahre alt und HIV-positiv. Bei einer Vorsorgeuntersuchung mit 15 Monaten erfährt ihre leibliche Mutter, dass sie ihre Tochter bei der Geburt mit dem Virus infiziert hat, und zerbricht daran. Mit sechs Jahren kommt Corinne zu einer Pflegefamilie in ein kleines, bayerisches Dorf. Wenige Jahre später stirbt ihre leibliche Mutter an Aids.

Corinnes Pflegeeltern entscheiden, dass ihre Tochter bis zum Abitur niemandem von der Infektion erzählen soll – zu groß ist die Angst vor Mobbing, Ausgrenzung, sozialer Ächtung. Gleichzeitig ließen die Eltern zu, dass ein ZDF-Fernsehteam Corinne auf ihrem Weg von der Grundschule bis zum Abitur begleitet. Der Film mit dem Titel „Niemand darf es wissen“ lief zum Weltaidstag 2015 im Fernsehen, auch in der SZ gab es eine große Reportage zu Corinnes Leben. Nun zeigt das ZDF am 9. Juli eine Fortsetzung, „Ich lebe positiv“, in dem die Reaktionen auf Corinnes Outing thematisiert werden.

jetzt: Corinne, wie waren die Reaktionen deiner Freunde auf deine HIV-Infektion? Immerhin hast du sie ja jahrelang vor ihnen geheim gehalten.

Corinne: Bis auf eine Person haben eigentlich alle positiv reagiert. Im April 2015 kam der Trailer zum Film heraus, den habe ich bei Facebook geteilt und meinen engen Freunden kommentarlos per WhatsApp geschickt. Ich habe dann einen Haufen Nachrichten bekommen. Viele fanden es richtig stark von mir, mit meiner Krankheit an die Öffentlichkeit zu gehen, ich bekam jede Menge interessierte Fragen zu HIV und Aids. Darüber habe ich mich besonders gefreut, weil ich damit ein Bewusstsein für das Thema geschaffen habe und Irrtümer aufklären konnte. Der einzige Vorwurf, der von meinen Freunden kam, war, warum ich es ihnen nicht schon viel früher gesagt hätte.

Warum hast du das nicht?

Es gab da diesen einen Vorfall in der fünften Klasse am Gymnasium, von dem mir meine Eltern erst später erzählt haben: Ich hatte einen kleinen Unfall, bin gegen den Bauzaun gelaufen und hatte eine Platzwunde im Gesicht. Die Mutter eines Klassenkameraden hat mich erst mal medizinisch versorgt. An dem Tag sollte mich meine Oma von der Schule abholen. Als sie dann ankam und mich blutend sah, schrie sie ganz aufgelöst: Oh Leute, passt auf, sie hat HIV! Das habe ich selbst gar nicht mitbekommen, weil ich wegen des Unfalls so aufgelöst war.

Jedenfalls ist die besagte Mutter zum Schuldirektor gegangen und meinte, ich sei eine Gefahr für ihr Kind und alle anderen. Der Direktor hat sich dann an das Kultusministerium gewendet und gefragt, ob er mich von der Schule schmeißen könne, weil meine Eltern ihm die Krankheit verschwiegen hatten.

„Viele aus meiner Schule haben sich nach dem Film testen lassen“

Wie ging es dann weiter?

Meine Pflegemutter hat die Mutter beschwichtigen und sie davon überzeugen können, dass das mit der HIV-Infektion nicht stimmen würde. Gleichzeitig erklärte das Kultusministerium dem Rektor, dass es bei HIV keine Meldepflicht gibt, ich ihm also gar nichts sagen musste, sodass ich auf der Schule bleiben konnte. Aber diese Erfahrung hat uns gezeigt, dass es nur zu meinem Besten war, dicht zu halten, weil unsere Gesellschaft leider einfach noch nicht so weit war. Freunden hätte ich es manchmal schon gerne gesagt, ja, aber wer weiß, wie die im Streit reagiert hätten.

Was gab es noch für Reaktionen in deiner Schule auf dein Outing?

Viele aus meiner Schule haben sich nach dem Film auf HIV testen lassen. Menschen, mit denen ich nicht annähernd in Berührung gekommen bin. Das fand ich ein wenig affig. Andererseits aber auch gut, weil das grundsätzlich jeder mal tun sollte. Dann gab es aber noch eine Situation mit einem Typen, mit dem ich mich mal geküsst habe. Der hatte so eine Panik davor, sich infiziert zu haben, dass ich ihm eine ärztliche Bestätigung darüber vorlegen musste, dass meine Viruslast unter der Nachweisgrenze liegt, also absolut keine Ansteckungsgefahr bestand. Er hat es mir danach immer noch nicht geglaubt. Keine Ahnung, ob er sich mittlerweile beruhigt hat.

Ab der Grundschule hat ein Kamerateam deinen Umgang mit der Krankheit begleitet. Wie kamen die gerade auf dich?

Die Regisseurin Maike Conway hatte den Verein „Sonnenstrahl“ kontaktiert. Der Verein setzt sich für HIV-infizierte Kinder und Erwachsene ein; es gibt viele Freizeit- und Ferienaktivitäten. Damals dachte ich, das sei bloß irgendeine Kindergruppe, mit der wir öfter mal zusammen weggefahren. Jedenfalls wollte sie einen Film zu HIV-positiven Kindern drehen, fragte dort nach, und meine Mutter meldete sich dann bei ihr.

„Ich wusste also, dass ich irgendeine Krankheit habe, ich hatte nur keinen Namen dafür“

Was hast du deinen Mitschüler*innen erzählt, warum du plötzlich von einem Fernsehteam in der Schule begleitet wirst?

Ich habe denen gesagt, sie würden eine Doku über Pflegekinder, deren Eltern gestorben sind, drehen. Das haben die so akzeptiert.

Damals warst du gerade acht und wusstest selbst noch nichts von deiner HIV-Infektion. Was dachtest du, warum du gefilmt wirst?

Darüber habe ich mir ehrlich gesagt noch nie wirklich Gedanken gemacht. Das hat mich als Kind wahrscheinlich nicht so sehr gekümmert. Ich fand es einfach wahnsinnig cool, vor der Kamera stehen zu dürfen, welchem Kind würde das nicht gefallen? Aber in den ersten Minuten des Filmes geht es ja auch um den Tod meiner Mutter, ich glaube, ich dachte am Anfang selbst, dass die hier sind, um mein Leben als Pflegekind zu porträtieren. Später sieht man mich dann, wie ich meine Medikamente zusammenpacke, um bei einer Freundin übernachten zu können. Da wusste ich aber auch noch nicht, dass ich HIV-positiv bin, nur, dass ich irgendwie krank bin. Stück für Stück habe ich dann realisiert, worum es hier eigentlich wirklich geht.

Wann und wie hast du selbst konkret erfahren, dass du HIV-positiv bist?

Meine Pflegeeltern haben mich langsam an das Thema herangeführt. Als ich noch klein war, habe ich meine Mutter zum Beispiel gefragt, warum ich immer so viele Medikamente nehmen muss. Da erklärte sie mir, dass ich ein krankes Blut hätte und die Tabletten dafür sorgten, dass es gesund wird. Ich wusste also, dass ich irgendeine Krankheit habe, ich hatte nur keinen Namen dafür. Aber das war okay, weil meine Eltern mir alle Fragen, die ich sonst dazu hatte, immer beantworteten. Als ich dann 13 war, hat sich meine Schule an dem Benefiz-Lauf „Run for Life“ beteiligt. Zuhause habe ich meinen Eltern erzählt, dass wir für Kinder in Afrika laufen, die „Aids haben, oder so“. Kurz darauf haben wir uns alle an einen Tisch gesetzt und dann haben sie mir alles erzählt.

Was war das für ein Gefühl?

Ganz ehrlich gesagt: Mir war das egal. Es hat sich doch nichts verändert dadurch. Vielleicht war es ganz gut zu wissen, wie die Krankheit, die ich habe, überhaupt heißt, weil ich das dann alles jetzt besser einordnen konnte. Aber es war kein Schock für mich, wirklich nicht. Abgesehen von den Medikamenten, die ich nehmen muss, und den regelmäßigen Arztbesuchen, führe ich ja auch ein ganz normales Leben. Mich unterscheidet nichts von Menschen, die HIV-negativ sind.

„Niemand, der HIV-positiv ist, soll mehr Angst vor Ausgrenzung haben müssen“

Wie bewertest du rückblickend den Film? Du warst ja noch sehr jung, als deine Pflegeeltern erlaubt haben, dass dich ein Kamerateam begleitet…

Ich bin sehr froh darüber, dass man mir die Chance gegeben hat, mich auf diesem Weg outen zu können. Der Film zeigt auf eine anschauliche und verständliche Weise mein Leben mit der Krankheit und klärt über Vorurteile auf. Ich hatte, bis ich 17 war und ein Vertrag mit mir abgeschlossen wurde, immer die freie Wahl: Will ich das alles wirklich oder nicht? Ich hätte mich also genauso gut gegen die Ausstrahlung entscheiden können, dann wären neun Jahre Arbeit eben einfach futsch gewesen. Aber das habe ich nie in Erwägung gezogen. Ich bereue nichts, im Gegenteil, ich schaue mir den Film immer noch gerne an.

Heute willst du über HIV und Aids aufklären, stehst bei Facebook und Instagram Rede und Antwort. Welche Vorurteile ärgern dich am meisten?

Mich nervt, dass viele Leute noch immer denken, dass HIV im Alltag übertragbar ist. Dass alle, die HIV-positiv sind, zwangsläufig eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen. Dabei werden die Erreger bei allen, die erfolgreich eine Therapie machen, im Körper so stark unterdrückt, dass es im Blut überhaupt nicht mehr nachweisbar ist, das Virus also selbst bei ungeschütztem Sex nicht übertragen werden kann. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Deshalb wünsche ich eine bessere mediale Aufklärung. Ich habe gemerkt, dass viele Menschen, vor allem die junge Generation, nicht genau weiß, wo sie zuverlässige Informationen zu HIV und Aids herbekommt. Im Internet kursiert ja leider jede Menge dummes Zeug. Da muss also noch mehr getan werden, wir müssen offener über das Thema sprechen können, für mehr Toleranz sorgen. Niemand, der HIV-positiv ist, soll mehr Angst vor Ausgrenzung haben müssen.

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