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Wenn die Nacht kommt, kommt die Angst

Foto: photocase.de/Schneekind

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Die Hiobsbotschaft kommt beim Frühstück: Sie würde heute Nacht sturmfrei haben; die komplette WG ausgeflogen. Sofort wird Koko flau im Magen. Sie beginnt zu zittern. Ihren Mitbewohnern sagt sie: nichts. Sie müssen das nicht wissen. So spät wie nur irgendwie möglich geht Koko von der Uni nach Hause. Vor zwei oder drei Uhr nachts wird sie eh nicht schlafen können. Erst hinlegen, wenn es wirklich nicht mehr anders geht. Wenn der Körper schlapp macht. Damit wenigstens das Einschlafen ohne Horrorszenarien abläuft. Koko gähnt. Es wird Zeit. Sie knipst das Licht im Flur an. Die Türe zu ihrem Zimmer lässt sie offen. Dann schlüpft sie unter die Decke. „Mein Bett ist ein sicherer Bereich. Mir kann hier nichts passieren“, murmelt sie vor sich hin. Plötzlich schreckt sie hoch. Da war doch was! Eine Türklinke! Da wurde eine Türklinke runtergedrückt! Ganz sicher! Kokos Herz beginnt zu rasen. Starke Kopfschmerzen überfallen sie. Wer war das? Was ist, wenn es ein Einbrecher ist? Doch nachschauen kommt nicht infrage. Koko kann sich nicht bewegen.

„Dieses Was wäre, wenn... ist das, was meiner Fantasie den Kick gibt“, erklärt Koko einen Tag später. Es ist hell. Einschlafen konnte sie erst, als die Dämmerung eingesetzt hat. „Ich bin gefangen in diesem Gedankenkarussell: Wer könnte es sein, was würde er oder sie wollen, was mache ich dann, wie würde ich mich wehren.“ Im Kopf geht Koko alle möglichen Szenarien durch. Dabei weiß sie – rein rational betrachtet – dass da niemand ist. Dass die Geräusche, die sie nachts hört, reine Einbildung sind. 

Nyktophobie nennen Experten dieses Phänomen: die krankhafte Angst vor dem Dunkeln. Fast jedes Kind hat sie; spätestens als Jugendliche überwinden wir diese Angst aber. Das gelingt jedoch nicht jedem. Wie viele Erwachsene sich bei Dunkelheit fürchten, ist unklar. Der Psychologe Ralph Schliewenz schätzt die Zahl der Betroffenen auf unter fünf Prozent. Die Psychologin Birgit Spieshöfer geht von einer wesentlich höheren Dunkelziffer aus: „Es ist eine weit verbreitete Angst. Ich habe einige Patientinnen, die mir erzählen, dass sie nachts nicht oder kaum schlafen können, wenn ihr Partner nicht da ist.“ Auch das ist ein Beispiel für Nyktophobie.

Doch woher kommt die unbegründete Angst vor der Nacht? „Das ist immer individuell verschieden“, sagt Spieshöfer. Koko glaubt, es liegt an den ganzen Krimis, die sie als Kind geguckt hat. Für Spieshöfer reicht das als Erklärung nicht aus: „Da muss schon noch mehr dazukommen. Eine persönliche Prädisposition zum Beispiel.“ Damit meint sie eine besondere Empfänglichkeit für die Schreckensbilder, die Horrorfilme oder dergleichen übermitteln. „Je sensibler man ist, desto mehr nimmt man wahr und desto anfälliger ist man für sowas“, sagt Spieshöfer, „und je jünger wir sind, desto unmittelbarer erleben wir Filme.  Sie lösen direkt was in uns aus. Wir haben noch nicht die Fähigkeit erlernt, das, was in uns angetriggered wird, wegzurationalisieren.“

Koko ist fünf Jahre alt, als sie anfängt – statt zu schlafen – mit ihrer Mutter Tatort zu gucken. „Ich habe danach oft sehr intensiv geträumt“, erinnert sie sich. Eine lebhafte Fantasie kann Nyktophobie durchaus beflügeln, sagt Spieshöfer: „Es gibt immer wieder Untersuchungen, die zeigen: Unser Verstand kann nicht wirklich unterscheiden, ob uns etwas tatsächlich passiert ist oder wir es uns nur vorgestellt haben.“

Albträume hat Koko keine

In Kokos Kindheit liegt aber noch eine weitere Ursache begraben, mit der sich die 22-Jährige ihre Angst vor der Dunkelheit erklärt. Sie wuchs als Einzelkind in einem großen Landhaus in Brandenburg auf, in der Nähe eines Hundert-Seelen-Dorfes. Ihr Vater legte nur wenig Wert auf Sicherheit. Die Haustür stand den ganzen Tag offen. Erst nachts sperrte er sie ab. Für den Psychologen Ralph Schliewenz mögliche Hinweise darauf, dass hinter Kokos Angst vor der Dunkelheit wahrscheinlich ganz natürliche, existenzielle Ängste stecken: Angst vor Einsamkeit, Ausweglosigkeit, Kontrollverlust. Kokos Situation als Einzelkind könnte diese Urinstinke noch verstärkt haben, vermutet Spieshöfer.

Die beiden Psychologen haben aber noch einen weiteren möglichen Erklärungsansatz für Kokos Nyktophobie: ein Trauma, ein emotional belastendes Erlebnis, das sich bei Dunkelheit abgespielt haben könnte. Ob sie je etwas Schlimmes in dem abgeschiedenen Landhaus erlebt habe? „Eigentlich nicht, nee“, sagt Koko. Eigentlich. „Ich glaube, ich würde mich daran erinnern“, fügt sie hinzu. Dann fällt ihr doch noch etwas ein. „Einmal ist jemand in unserer Abwesenheit durch unser Haus marschiert und hat es ausgekundschaftet.“ Doch was dieser Mann genau wollte, was sich exakt zugetragen hat –  das hat ihr Vater ihr nie erzählt.

Eine Geschichte, die einer fantasievollen Person viele Lücken lässt, um sie zu füllen. Koko jedoch spielt den Vorfall runter. Er ist für sie nicht mehr als eine Randnotiz. Generell scheint sie an Ursachenforschung nicht groß interessiert. Was die Psychologin Spieshöfer zu einer weiteren möglichen Erklärung für Kokos Angst vor der Nacht bringt: „Das Dunkel symbolisiert unser Unbewusstes. Deshalb würde ich bei Nyktophobie-Patienten immer nachfragen: Was steckt im Unbewussten dieses Menschen, was ihm Angst bereitet?“ Angst vor der Dunkelheit, weil Dunkelheit Konfrontation mit dem Unterbewusstsein bedeutet also. Und das nicht nur auf metaphorischer Ebene: „In unseren Träumen sind wir ganz unmittelbar mit unserem Unterbewusstsein in Kontakt“, sagt Spieshöfer. Auch Schliewenz berichtet: „Bei vielen Patienten stellt sich heraus, dass sie gar keine Angst vor der Dunkelheit haben, sondern vor dem Träumen.“

Albträume hat Koko keine, sagt sie. Dennoch bringt sie die Rolle, die ihr Unterbewusstsein bei ihrer Phobie spielen könnte, selbst zur Sprache: „Ich glaube, dass man in seinem Schlafzimmer ziemlich verletzlich ist. Dass man dort am angreifbarsten ist, weil es sehr privat ist. Schlafen ist intim. Tagsüber rüstet man sich, trägt unter Umständen sogar eine Fassade. Aber in der Nacht lässt man das alles los.“ Steckt hinter Kokos Nyktophobie also womöglich die Furcht, ganz und gar sie selbst zu sein und sich dadurch verwundbar zu machen?

Um ihre Angst vor dem Dunkeln in den Griff zu bekommen, muss Koko deren Ursache aber gar nicht kennen, sagt die beiden Psychologen. „Die Technik zur Verarbeitung von Ängsten ist ganz einfach“, erklärt Spieshöfer. „Ein Gefühl möchte gefühlt werden und ein Gefühl fühle ich über den Körper. Ich kann Gefühle nicht denken. Wenn ich ein Gefühl zulasse, spüre ich ein Kribbeln oder eine Schwere oder es wird kalt et cetera. Wenn die Angst aufkommt, muss ich ‚ja‘ zu ihr sagen und nicht ‚nein, ich will dich nicht fühlen‘. Wir denken oft, dass wir die Gefühle schon zulassen und fühlen, dabei hängen wir kurz davor. Und das ist es, was es für uns so schlimm und anstrengend macht.“

 

Was abstrakt klingt, bedeutet in der Praxis, dass der Patient in einem geschützten Rahmen künstlich, also rein über sein Vorstellungsvermögen, in die Angstsituation geleitet wird, bewusst in sie hineinspürt und lernt, sie auszuhalten. Dadurch tritt etwas ein, was Schliewenz ‚Habituation‘ nennt: „Es geht nicht darum, die Angst zu bekämpfen, sondern sie bewältigbar zu machen.“ Spieshöfer ergänzt: „Die Technik setzt nicht auf Konfrontation und auch nicht auf Desensibilisierung. Sie bedeutet mehr, Gefühle zu integrieren.“ Von Kokos Affirmationen hält sie wenig, da das Mantra-artige Vorsagen von Sätzen wie „Ich bin in meinem Bett sicher“ die Angst verleugnet.

Ob Koko sich irgendwann einen Therapeuten suchen wird, weiß sie noch nicht. Ihre Scham ist einfach zu groß. „Meiner Mutter gegenüber habe ich es mal angedeutet, aber sie hat es ins Lächerliche gezogen.“ Am meisten belastet Koko, dass sie wegen ihrer Nyktophobie nicht alleine verreisen kann: „Dabei würde ich das so gerne mal machen.“ Und auch bei Gruppenreisen habe sie immer Angst vor der Schlafsituation. „Die Angst macht mich abhängig.“ Doch zu Hause in ihrer WG in Berlin sind diese Sorgen weit weg – vorausgesetzt ihre Mitbewohner sind da. „Alleine wohnen“, sagt Koko, „wäre mein schlimmster Albtraum.“

 

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