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Wenn jede Mahlzeit mit Angst verbunden ist

Foto: Nadine Platzek / photocase.de

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Abends vor dem Einschlafen ist es am Schlimmsten. Ich will mich grade ins Bett legen, da fängt es an: krampfartige Bauchschmerzen. Den ganzen Tag schon hatte ich einen steinharten Oberbauch. Ich verziehe das Gesicht, nicht schon wieder, denke ich und überlege, was ich diesmal falsches gegessen habe. Ich atme tief durch, hoffe, die Schmerzen wegmeditieren zu können – Fehlanzeige. Ich flüchte auf die Toilette. Knapp anderthalb Stunden später falle ich völlig erschöpft, fröstelnd und die Wärmflasche umklammernd ins Bett. Mein Darm hat sich vorerst beruhigt.

Menschen, die an dem Reizdarmsyndrom (RDS) leiden, kennen solche Situationen. Und das sind einige: Bei RDS handelt es sich um eine funktionelle chronische Verdauungserkrankung, an der in Deutschland je nach Definition schätzungsweise zwischen fünf und 20 Prozent der Bevölkerung leiden, wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer. Da jedoch vermutlich viele mit ihren Beschwerden nicht zum Arzt gehen, ist eine genaue Betroffenenanzahl schwer festzumachen.

Die Krankheit tritt in der Regel erstmalig zwischen 20 und 30 Jahren auf. Genau dann also, wenn man so richtig ins Leben starten will, zu Beginn des Studiums oder des Arbeitslebens. Blähungen, Durchfall, Verstopfung, krampfartige Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit und Unwohlsein in Klamotten ohne Gummizug sind alles typische Merkmale von dem RDS, wobei diese bei jedem anders ausfallen.

Als Kind wurde bei mir eine Laktoseintoleranz festgestellt. Vor drei Jahren begann ich auf Gluten zu verzichten, dann auf Fleisch, Eier, fett- und zuckerhaltige Lebensmittel, Alkohol und Hülsenfrüchte. Die Probleme blieben. Ich verlor die Lust am Essen. Jede Mahlzeit war mit Angst vor der Toilette verbunden. Entspannt mit Freunden essen gehen – undenkbar. Ich wollte am liebsten gar nicht mehr rausgehen. Und wenn doch, war mein erster Gedanke: „Gibt es da ein Klo?“. Abends war ich oft zu erschöpft, um was trinken oder feiern zu gehen. Wie schlecht es mir ging, sagte ich kaum jemandem. Wer redet schon gerne über Verdauungsprobleme?

Lieber hungern, als Schmerzen haben – ein gefährlicher Teufelskreis

Ohne es zu wollen, zog ich mich zurück. Eine typische Reaktion auf das RDS, weiß Jesaja Brinkmann, Medizinstudent und Mitbegründer von Cara Care, einer Online-Praxis für medizinische Ernährungsberatung: „Viele ernähren sich zu restriktiv. Sie könnten eigentlich mehr essen, als sie es tun. Einfach aus Angst an Symptomen“, bestätigt er. „Das führt einerseits zu einem eingeschränkten Sozialleben. Andererseits kann es zu Unter- oder Mangelernährung führen“. Doreen Oelschläger vom Verein Reizdarmselbsthilfe e.V. ergänzt: „Viele trauen sich nicht mehr zu essen und kommen sogar in eine Essstörung.“ Lieber hungern, als Schmerzen haben – ein gefährlicher Teufelskreis. Betroffene leiden oft unter Kopf- und Rückenschmerzen, ständiger Müdigkeit, Konzentrations- und Antriebslosigkeit. Laut einer Statistik der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten gab es 2014 rund 32 000 Arbeitsunfähigkeitsfälle aufgrund des RDS.

Durch die Einschränkungen im Alltag und die damit verbundene Angst und Scham hat die Krankheit für viele Betroffene auch psychische Folgen wie Angstzustände oder Depressionen – die wiederum den Reizdarm verstärken können. Die Zusammenhänge zwischen Psyche und Darm gelten mit als Ursache für die Krankheit. Auf Anspannung oder Stress reagieren RDS-Patienten mit Durchfall oder Verstopfung. Daneben werden Störungen des Immunsystems und der Darmflora, sowie Magen-Darm-Infektionen als Auslöser der Krankheit vermutet. Wie und warum das RDS genau entsteht, weiß niemand. Das erschwert sowohl die Diagnose als auch die Behandlung. Ein Arzt kann Reizdarm erst diagnostizieren, nachdem er durch Atem- und Bluttests, sowie Stuhlproben, Ultraschall und notfalls einer Darmspiegelung andere Krankheiten ausgeschlossen hat.

Um Stress als Trigger zu minimieren, rät man Betroffenen, regelmäßige Entspannungsphasen wie Meditation und Yoga in den Alltag einzubauen, oder neben einer Ernährungsberatung eine Psychotherapie zu besuchen. Außerdem hilft Bewegung. Eine strukturierte Essensplanung kann ebenfalls Stress abbauen. „Vorher zu schauen, was es in der Kantine gibt oder in einem Restaurant zu essen, wo man sich sicher ist, dass man das Essen verträgt“, rät Jesaja Brinkmann von Cara Care. Das klingt leichter, als es ist. Aus Erfahrung weiß ich: Obwohl einige Kantinen und Restaurants auf viele Diäten oder Unverträglichkeiten eingestellt sind, ist es die Ausnahme. Ich nehme daher prinzipiell nur mein mitgebrachtes Essen zu mir – meist außerhalb der Kantine.

Nach einer Magen-Darm-Spiegelung im vergangenen Jahr hatte ich es Schwarz auf Weiß: organisch alles top. Einerseits war ich froh darüber, andererseits frustrierte es mich, keine klare Antwort zu haben auf die Frage, was mit mir los war. Erst eine Ernährungsberaterin wagte die Diagnose RDS – nach fast 20 Jahren mit Beschwerden und vielen Arztbesuchen.

Ein Anfang. Entspanntes und spontanes Essen ist für mich trotzdem nicht möglich. Nur durch einen festen Alltag, der meinen Speiseplan strukturiert und disziplinierte Vermeidung bestimmter Lebensmittel, habe ich seltener Probleme: Immer zur gleichen Zeit essen, mindestens drei Stunden zwischen jeder Mahlzeit und möglichst keine Snacks zwischendurch. Reizdarmpatienten fahren gut damit, auf blähende, zu fettige oder zuckerhaltige Lebensmittel zu verzichten. „Viele der Betroffenen vertragen Laktose, Fruktose, Hülsenfrüchte und Weizenprodukte in großen Mengen nicht“, sagt Brinkmann.

Außerdem ist wichtig, wie man isst. „Man kann schon große Erfolge erzielen, wenn man in Ruhe isst und genug kaut“, ergänzt Brinkmann. Ein idealer Lebensmittelplan lässt sich für Betroffene nicht festmachen. Jeder müsse individuelle Linderungs- und Trigger-Faktoren für sich herausfinden und im schlimmsten Fall mit Medikamenten unterstützen. Ein Ernährungsprotokoll kann dabei helfen. Eine Heilung für RDS gibt es nicht. „Es ist eine chronische Erkrankung, die einen bis ans Lebensende begleitet“, bestätigt Brinkmann. Die Lebenserwartung ist dabei nicht beeinträchtigt, allerdings besteht ein minimal erhöhtes Risiko an Darmkrebs zu erkranken.

Ein Leben mit RDS bedeutet dennoch oft in Angst zu leben, ebenso mit Disziplin und starken Nerven. Es dauert, sich damit abzufinden, dass man viel Schlaf und Ruhe braucht und auf viele Dinge verzichten muss, die für andere völlig normal sind. Nicht alle verstehen das. Auch, weil RDS meistens nicht als ‚richtige‘ Krankheit wahrgenommen wird. Für mich und andere Betroffene bedeutet das: Immer wieder kämpfen für Verständnis und Akzeptanz. Wenn wir offen über Verdauung sprechen und die Scham darüber ablegen würden, wäre das bereits ein erster wichtiger Schritt, Menschen mit Reizdarmsyndrom im Alltag zu unterstützen.

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