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„Ich habe mich bewusst alleingelassen gefühlt“

Fotos: unsplash/Francesco Ungaro, Vanda Lay/Photocase Bearbeitung: jetzt

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Christine und ihr Mann hatten das Navigationssystem nur gekauft, um damit zum Arzt zu kommen. Etwa 90 Kilometer, mehr Landstraße als Autobahn, eineinhalb Stunden hin und eineinhalb wieder zurück. Als sie den Weg gefunden hatten und die Schwangerschaft abgebrochen war, konnten sie das Navi nicht mehr sehen – und verkauften es sofort wieder.

Christine war damals 36, hatte bereits zwei Kinder, aber konnte und wollte kein weiteres bekommen. Dass Christine zunächst nirgendwo Informationen fand, nicht im Internet und auch nicht bei ihrem Arzt; dass sie für Beratungsgespräch und Abtreibung dann mehrmals die 90 Kilometer fahren musste, weil es in ihrer Nähe niemand anderes gab; dass sie sich dort nicht gut beraten fühlte, aber trotzdem blieb, weil sie glaubte, keiner sonst würde ihr helfen  – geschenkt, Hauptsache es war weg.

Die Zahl der Ärzt*innen, die in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, ist laut Statistischem Bundesamt in den vergangenen 15 Jahren um 40 Prozent gesunken. Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche ist im gleichen Zeitraum nur um 21 Prozent gesunken – von 128 030 im Jahr 2003 auf 100 986 im Jahr 2018. Es handelt sich bei dieser Entwicklung also nicht um einen einfachen Angebot-Nachfrage-Mechanismus, sondern um eine größer werdende Versorgungslücke. Das ist ein Problem, denn immer mehr Frauen müssen für eine Abtreibung immer weitere Strecken fahren.

„In so einer Situation hat man genug andere Probleme“

Aktuell wird in Deutschland wieder einmal viel über die gesetzliche Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen gesprochen. Dabei geht es insbesondere um den Paragrafen 219a und das sogenannte Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche. Die, die seine Abschaffung fordern, sagen, er behindere das Informationsrecht. Befürworter sagen, er diene dem Schutz des ungeborenen Lebens. Die Diskussion um den Paragrafen ist sehr wichtig, verfehlt aber auch das eigentliche Problem: Was nützen die Informationen darüber, dass nur in einer zwei Stunden entfernten Klinik abgetrieben werden kann, wenn es für eine Frau nicht oder nur unter großem Aufwand möglich ist, überhaupt erst dorthin zu kommen? 

Für Christine bedeutete der weite Weg eine zusätzliche Belastung: „In so einer Situation hat man genug andere Probleme, um sich noch Gedanken darüber zu machen, wie man da hin- und wieder zurückkommt – am besten auch noch, ohne dass es jemand mitbekommt.“ Ihrer Familie haben Christine und ihr Mann bis heute nicht von dem Abbruch erzählt. „Ich habe mich bewusst alleingelassen gefühlt, so, als wollte mir auch überhaupt niemand helfen“, sagt Christine, „da schwingt immer auch ein vorwurfsvolles ‘So etwas macht man ja auch nicht‘ mit. Das hat mich ziemlich fertiggemacht.“ 

Marie* ist 21. Vor zehn Monaten musste sie für eine Abtreibung aus der niederbayerischen Kleinstadt, in der sie wohnt, 70 Kilometer bis nach Passau fahren. Gegen die einzige andere Option – Regensburg – entschied sie sich, weil das noch weiter weg gewesen wäre. Damals war sie zwar in einer festen Beziehung, aber die Umstände waren schwierig. „Mein Freund hat mich nicht unterstützt und ich wusste, dass ich das nicht alleine durchstehen kann“, sagt Marie. Die Schwangerschaft war ungeplant, lange wollte sie sie nicht wahrhaben, noch länger brauchte sie, um eine Entscheidung zu treffen. Als Marie sich dann gegen die Schwangerschaft entschied, zog ihr damaliger Freund aus der gemeinsamen Wohnung aus. Ihre Oma fuhr sie zu den Terminen nach Passau.

Auch Marie spricht von einer „Situation, in der man ganz andere Dinge im Kopf hat“, aber ihr war die Strecke bis zur Praxis in Passau daher eher egal: „Für den Abbruch ein Stück fahren zu müssen, war für mich das geringere Übel“, sagt sie, „mir war es einfach nur wichtig, endlich Hilfe zu bekommen und dass es vorbei ist.“ Marie entschied sich für eine Ausschabung – ein operativer Eingriff, bei dem die Gebärmutterschleimhaut abgetragen wird. Sie erzählt von zwölf anderen Frauen, die gleichzeitig mit ihr für eine Abtreibung in der Praxis waren: „Ich hab dort gewartet und die ganze Zeit gesehen, wie eine nach der anderen in den OP gefahren wurde und eine Viertelstunde später schlafend wieder herauskam.“ Gleichzeitig wirkte das alles sehr normal und routiniert – das habe es noch viel absurder gemacht.

Der Arzt ist eigentlich in Rente. Er operiert jedoch weiter, weil er in ganz Niederbayern der einzige ist, der ungewollt Schwangeren hilft

Immer mehr Ärzt*innen, die zuvor Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen haben, geben ihre Praxen auf, weil sie beispielsweise in Rente gehen. Gleichzeitig kommen kaum jüngere nach, die die Versorgung aufrechterhalten könnten. Das liegt zum einen daran, dass Schwangerschaftsabbrüche oft kein Teil der medizinischen Ausbildung sind und zum anderen daran, dass Ärzt*innen, die Abtreibungen vornehmen, immer häufiger von Abtreibungsgegnern – sogenannten „Lebensschützern“ – unter Druck gesetzt oder sogar bedroht werden. Die wenigen, die noch praktizieren, brechen nicht selten Schwangerschaften im Akkord ab. Auch der Arzt, bei dem Marie war, ist eigentlich bereits in Rente. Er operiert jedoch weiter, weil er mittlerweile in ganz Niederbayern der einzige ist, der noch ungewollt Schwangeren hilft.

Dieses Problem betrifft jedoch nicht nur die ländlichen Gebiete Deutschlands, sondern auch größere Städte. Augsburg ist so eine Stadt: Dort gibt es keine Praxis, die Abtreibungen vornimmt. Die einzige Möglichkeit für einen Schwangerschaftsabbruch ist im acht Kilometer entfernten Friedberg, das außerhalb des Straßenbahnbereichs liegt. Aber auch dort werden nicht alle Abbruchmethoden durchgeführt, für einen Eingriff unter Narkose müssen Frauen bis nach München fahren. 

Marianne Weiß ist Therapeutin in der Paar- und Sexualberatung und arbeitet in der staatlich anerkannten Schwangerenberatung „Pro Familia“ in Augsburg. Sie berät ungewollt Schwangere, bevor sie für einen Abbruch zu einem Arzt oder einer Ärztin gehen können. Die Frauen seien häufig sehr überrascht darüber, dass die medizinische Versorgung nicht in ihrer Nähe möglich ist. „Für manche Frauen ist das eine zusätzliche psychische Belastung“, sagt Weiß. Es sei eine große Hürde, bis nach München fahren zu müssen, die vorgeschriebene Begleitung, die Fahrtkosten und auch noch gegebenenfalls eine Kinderbetreuung organisieren zu müssen.

„Das Bewusstsein darüber, dass Schwangerschaftsabbrüche eine Errungenschaft sind, verschwindet immer mehr“

Es gibt keine offizielle Stellen, die beispielsweise Fahrten organisieren oder den Frauen bei diesem Problem beistehen. Meist seien es dann Freunde oder Verwandte, die die Frauen begleiten, aber auch das sei nicht selbstverständlich. 

Dass es in Augsburg mit mehr als 280 000 Einwohnern zahlreiche gynäkologische  Praxen und Kliniken mit gynäkologischen Abteilungen gibt, die theoretisch auch Abtreibungen durchführen könnten, wirkt dabei wie Häme – oder wie Unterlassung. Kaum ein anderer medizinischer Eingriff ist so umstritten wie der Schwangerschaftsabbruch. Jeder Arzt und jede Ärztin kann selbst entscheiden, ob er oder sie Abbrüche vornimmt oder nicht. 

Es wird immer Frauen geben, die eine Schwangerschaft beenden wollen. Sicherer für die Betroffenen wäre daher, ihnen im Rahmen der gesetzlichen Regelungen Zugang zu einem sicheren Eingriff und guter medizinischer Betreuung zu garantieren. Das kann nur passieren, wenn Schwangerschaftsabbrüche Teil der gynäkologischen Grundversorgung werden. „Durch diese ganze Problematik wird deutlich, dass die frauenfreundliche Versorgung bei Schwangerschaftsabbrüchen noch immer nicht selbstverständlich ist und dass das Bewusstsein darüber, dass Schwangerschaftsabbrüche eine Errungenschaft sind, immer mehr verschwindet“, sagt Marianne Weiß. 

* Marie heißt eigentlich anders, ihr Name ist der Redaktion bekannt.

(Dieser Text ist in inhaltlicher Zusammenarbeit mit Die Frage entstanden, einem Format von funk.)

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