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Wo kommt unser Ekel her?

Der Ekel vor Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen ist, ähnlich wie unsere Vorstellungen von Schönheit, gesellschaftlich bestimmt.
Illustration: Federico Delfrati

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Wer schon mal nüchtern, im Vollbesitz seiner Sinne, die erste S-Bahn vom Feiern nach Hause genommen hat, dürfte den Ekel gefühlt haben. Nicht, weil in der Ecke ein angebissener Burger liegt und die halbvolle Dose Bier eine feuchte Spur auf dem Mittelgang hinterlässt. Sondern weil das ganze Abteil nach dem getrockneten Schweiß aus überfüllten Clubs riecht, oder der beste Freund sturzbesoffen ist und den Vierer nebenan vollkotzt: Wir ekeln uns.

Dann verziehen wir nicht nur das Gesicht auf typische Weise. Wir schwitzen dann auch stärker, haben plötzlich mehr Spucke im Mund und uns wird übel. „Das beobachten wir bei keiner anderen Emotion“, sagt die Persönlichkeitspsychologin Sonja Rohrmann. Sie ist Professorin an der Uni Frankfurt und hat nicht nur den Ekel erforscht, sondern auch, was ihn von Angst unterscheidet. So ist zum Beispiel das Absinken der Herzrate untypisch für Angst. „Das ist eine Achtsamkeitsreaktion und keine Fluchtreaktion. Man verfällt beim Ekel eher in Schockstarre, als dass man wegrennt.“

Der Ekel-Schutz ist angeboren

Wir verziehen das Gesicht nicht ohne Grund. Ekel ist unser natürlicher Schutz. „Seinem Ursprung nach ist Ekel eine orale Abwehrreaktion. Man ekelt sich vor schlecht schmeckenden Substanzen, um den Körper vor giftigen Stoffen zu schützen“, sagt Professorin Rohrmann. Essen wir etwas Verdorbenes, verzieht sich unsere Mimik. Ekel hat ein Gesicht. „Dieses Anheben der Oberlippe ist als Überbleibsel des Würgereflex’ interpretierbar. Manchmal wird der Mund auch leicht geöffnet, die Zunge rausgestreckt und mit erhöhter Tonlage IIIHHH oder ÄÄÄHHH gesagt. Gleichzeitig wird die Nase gerümpft, wodurch sich die Nasenlöcher verschließen. Das wehrt üble Gerüche ab.“ Der Ekel-Schutz ist angeboren. Schon Babys verziehen das Gesicht, wenn man ihnen bittere und saure Flüssigkeiten auf die Zunge träufelt.

Dieser Ursprungs-Ekel schützt uns also vor Gift und verdorbenen Lebensmitteln. Dagegen ist der Ekel vor Kotze, Kot und Co. Teil des sogenannten Kern-Ekels. Er soll uns vor Infektionen und Krankheiten schützen. Doch bereits auf dieser zweiten Stufe von Ekel bestimmen soziale Regeln mit, wovor wir uns ekeln und wie wir damit umgehen. Kern-Ekel ist nicht einfach nur angeboren, sondern wir Menschen lernen als Kinder, dass wir beim Anblick unserer Körperprodukte eher die Nase rümpfen sollten. Dieser erlernte Umgang mit uns selbst erklärt wohl auch, warum wir einerseits Schweißflecken auf dem Hemd eklig finden, wenn wir doch andererseits nackt in der Sauna sitzen und möglichst viel schwitzen wollen. Schließlich ist von Schweiß sehen noch niemand krank geworden.

Ekelgefühle hängen von der Sozialisation ab

Der Ekel vor Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen ist, ähnlich wie unsere Vorstellungen von Schönheit, gesellschaftlich bestimmt. Dagegen sind Kotze oder Rotze keine Frage von Idealen, sondern von Tabus. Und auch die unterscheiden sich je nach Kultur. So finden es Asiaten ekelhaft, wenn sich jemand am Tisch die Nase putzt, Europäer hingegen finden es eklig, wenn wer die Nase hochzieht oder Schleim ausspuckt. Früher war es okay, volle Bettpfannen aus dem Fenster zu kippen, heute würden wir den Nachbarn fragen, ob er noch ganz sauber ist, wenn er seine Scheiße auf die Straße wirft.

Wie wäre es, wenigstens gerechter zum Schweißfleck zu sein? Schließlich schwitzen wir alle - auch wenn wir stets bemüht sind und gerne so tun, als würden wir nach Veilchen duften. Doch: „Menschen können nun mal ihre tierische Natur nicht leugnen, sie müssen sich ernähren und ausscheiden, sich fortpflanzen und sterben“, sagt Professorin Rohrmann. „Aber die Menschen haben Wege gefunden, um diese Dinge zu humanisieren. Es gibt Tischregeln, Beerdigungsrituale, Bräuche und Tabus.“ Denn Ekel schützt uns nicht nur vor Gift und Krankheiten, sondern dient in seiner dritten Stufe auch dazu, dass wir Menschen uns vom Tier abgrenzen, erklärt die Forscherin. Dieser moralische Ekel schützt nicht nur unsere soziale Ordnung, dank ihm verdrängen wir auch unsere eigene Sterblichkeit, wenn uns Leichen und herausplatzende Gedärme in Horrorfilmen den Magen umdrehen. Der Tod ist Tabu.

Dass manche von uns nicht trotz, sondern gerade wegen solcher Szenen Horrorfilme lieben, ist aber nicht etwa ungewöhnlich oder irgendwie gestört. Viele von uns sind fasziniert von irgendeiner Form von Ekel. Um die bildet sich dann manchmal ein ganz eigener Ekelkult. Schließlich kann uns das starke Gefühl eine Art Kick bescheren, den wir gerne wieder wollen.

Platzende-Pickel-Pornos

Um diesen Kick zu kriegen, schauen sich Millionen von uns zum Beispiel auf Youtube Videos von zerplatzenden Pickeln, aufgeschnittenen Zysten und monströsen Mitessern an. Die Pickel-Ikone ist die Dermatologin Sandra Lee, die ihre Abonnenten mit Videos wie „Blackhead Field of Dreams” oder „An Amazing Baby Faced Cyst” auf ihrem Youtube-Kanal beglückt. Da heißt sie „Dr. Pimple Popper”, ihre Videos wurden insgesamt rund 1,6 Milliarden (!) Mal angeklickt. Der Top-Kommentar unter einem der Videos: Ich hasse mich dafür die anzugucken, aber sie sind so befriedigend.

Befriedigung durch platzende Pickel? Das ist wohl die sich auftürmende Anspannung, die Faszination für den eigenen Ekel und schließlich die eitrige Erlösung, die einem die Videos geben. Garniert mit einer Prise Scham, Kategorie: Würde ich hastig wegklicken, wenn jetzt jemand reinkäme. Platzende Pickel befriedigen wohl irgendeinen Urtrieb und Sandra Lee hat die passenden Pornos dafür.

Es ist nicht der einzige Ekelkult des Internets. Schon vor einigen Jahren wurde ein Fetischfilm zur Mutprobe. Unzählige Reaction-Videos sind immer noch bei Youtube und Co. Wer schafft es bitte ohne jede Regung zwei junge Frauen zu beobachten, wie sie ihre Exkremente essen? Alle, die 2Girls1Cup nicht kennen, können sich glücklich schätzen und gut gelaunt Schokopudding futtern. Ums Erbrochene kümmert sich dagegen das Blog münchenkotzt.de, wo die schönsten Auswürfe rund ums Oktoberfest fotografisch verewigt werden. Deutsche Wertarbeit since 2008.

Schon lange vor dem Internet haben wir unsere Ausscheidungen gewürdigt. Deutschland ist das Land des Flachspülers, das Klo mit der Stufe, auf der alles landet, bevor es in der Kanalisation verschwinden darf. In wohl keinem anderen Land der Welt ist diese Bauart der Klos so weit verbreitet wie hier. Während andernorts schon immer der Tiefspüler bevorzugt wurde, ist auch in Deutschland mittlerweile das Flachspüler-Klo auf dem Rückzug. Wir haben wohl die Lust an ihm verloren. Dabei ist so eine Exkremente-Etagere auch nützlich, der Abstuhlungserfolg lässt sich mit einem Blick analysieren und ärztliche Proben viel einfacher nehmen. Noch so ein deutsches Ding von gestern: das Speibecken. Zwei Griffe und eine Schüssel mit Abfluss an der Wand, vielleicht noch eine Brause zum Nachspülen. In alten Verbindungs- und Wirtshäusern gibt es sie manchmal noch. Wer zu viel gesoffen hat, kann hier all das loswerden, was nicht bleiben, sondern zum Mund hinaus will.

Frauen ekeln sich leichter als Männer, sagt Ekel-Forscherin Sonja Rohrmann. „Männer spucken überall hin und Frauen finden das ekelhaft. Wenn jemand in der Öffentlichkeit spuckt und sich jemand darüber beschwert, sind das immer Frauen. Männer würden darüber nicht schimpfen“, sagt sie. Das unterschiedliche Ekelempfinden von Männern und Frauen hat wohl sogar eine biologische Funktion, so Rohrmann weiter. Aus der Forschung weiß sie, dass sich Frauen besonders stark in den ersten Monaten einer Schwangerschaft ekeln. Und wer sich mehr ekelt, passt besser auf, auf sich und den Nachwuchs.

Über Scham und Ekel verkaufen sich Produkte

Weil wir Ekel und den Umgang damit aber ähnlich wie gesellschaftliche Rollen und Regeln zu einem großen Teil erlernen, ist Veränderung gar nicht so leicht. Doch es gibt auch Ekel, der einfach falsch ist. Der geht gerade dann gerne Hand in Hand mit bescheuerter Scham, wenn die Industrie uns etwas verkaufen will. Denn bei Scham und Ekel, da kann man uns packen. So wird Schweiß nur zu gerne mit sozialer Ächtung inszeniert. Wir haben verinnerlicht: Was von uns kommt, ist eklig. Oder warum sonst wird Periodenblut in Werbespots immer noch in ein beruhigend-unnatürliches Babyblau umgefärbt? Es könnte ja Kundinnen verprellen. Solange das so ist, sind Instagram-Posts von blutigen Fingern, Slips und Tampons nicht nur feministisch was Gutes. Sondern so können wir auch den dummen, eingetrichterten Ekel besiegen. „Indem man sich dem Ekelreiz stellt, kann man sich die Reaktion abtrainieren”, sagt Professorin Rohrmann. Krankenpfleger schaffen das, Chirurginnen schaffen das, Reinigungskräfte schaffen das.

Und wir schaffen das auch. Jedes Mal, wenn wir uns küssen, tauschen wir Spucke aus. Wenn wir Sex haben, auch Sekrete, Sperma oder Schweiß. Dann ekeln wir uns davor nicht. unsere Partner sind uns eben vertraut, zumindestens so sehr, dass unsere Ekelreaktion im Normalfall ausbleibt. Bei Flüssigkeiten von Fremden ist das anders. Nur so ist Sex, ist Fortpflanzung überhaupt möglich.

Für eine Körperflüssigkeitenakzeptanz!

Wir können unseren Ekel also überwinden. Wir müssen deshalb jetzt nicht beim nächsten Mal interessiert in den Flachspüler schauen. Oder alle gemeinsam Pickel-Pornos ansehen. Niemand hat was davon, wenn wir plötzlich Kotze abkulten. Aber vielleicht brauchen wir sowas wie Body-Fluids-Neutrality: Darüber zu reden sollte uns öfter mal scheißegal sein.

Wir sollten beim Reden anfangen. Wir entkrampfen dadurch nicht unseren Darm, aber unser Miteinander. Wir könnten einfach sagen: „Platz da, ich hab Dünnschiss.“ Statt: „meinem Magen geht’s heute nicht so gut, ich glaube, ich muss mal ums Eck, mein Bauch grummelt“. Das schützt vor nervigem Mitleid und „Willst du ein Wasser?“ und sprengt den Weg zur rettenden Schüssel frei. 

Sich zu ekeln, hat seinen natürlichen Sinn, aber in der Direktheit stecken Chancen. Auf einen geradlinigen Umgang miteinander. Auf weniger Scham und auf bessere Beziehungen zu unseren Körpern, zu uns selbst. Menschen kacken, pissen, bluten nun mal.

Übrigens: Tränen sind die einzige Körperflüssigkeit, vor der wir uns nicht ekeln können. Warum das so ist, weiß man noch nicht genau, aber vielleicht liegt es daran, dass Tränen nicht stinken oder bitter schmecken, vermuten Forschende. Wenn sie uns klar und rein über die Wangen kullern, sind sie ein Zeichen von Emotionen – das uns Menschen von Tieren unterscheidet: Nur wir können aus Trauer, Schmerz oder Wut weinen.

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