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„In Dating-Formaten beobachte ich viel toxisches Verhalten”

Foto: obs; Bearbeitung: jetzt

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„Das ist nicht sein Ernst, oder?”, sagt Youtuberin Mirella Precek und schüttelt fassungslos den Kopf, während sie in einem Video auf die Reality-Show „Are You The One” reagiert. Abwechselnd zeigt sie dabei Szenen aus dem Format und kommentiert, kritisiert und parodiert sie vor der Kamera. Guckt man ihre Videos an, hat man das Gefühl, die Shows gemeinsam mit einer Freundin zu sehen. Man regt sich über das Verhalten der Teilnehmer:innen auf, lacht über witzige Szenen und diskutiert darüber, ob ein Paar gut zusammenpasst oder nicht. Und es funktioniert: Auf ihrem Account Mirellativegal, auf dem sie auch Videos zu Themen wie Feminismus und Schwangerschaft veröffentlicht, hat die 28-Jährige mittlerweile 610 000 Abonnent:innen, viele ihrer Trash-TV-Reactions haben mehr als eine halbe Million Klicks.

Denn ob „Temptation Island”, „Prince Charming” oder „Sommerhaus der Stars”: Die Liste an Reality-Shows, die dieses Jahr für Gesprächsstoff sorgen, ist lang. Und egal ob im Fernsehen oder Online, Trash TV ist erfolgreich. So hat beispielsweise die Plattform RTL+, die einen Großteil der aktuell beliebten Trash-TV-Formate anbietet, vergangenen Juni die Marke von zwei Millionen Abonnent:innen geknackt, und auch der Streamingdienst Netflix produziert mit Shows wie „Finger Weg”, „Liebe macht blind” oder „The Circle” vermehrt Reality-Formate. Auch im Fernsehen ist Trash-TV nach wie vor beliebt, die letzte Staffel von „Der Bachelor” sahen nach Angaben von RTL beispielsweise bis zu 2,7 Millionen Zuschauer:innen, was einem Marktanteil von mehr als 17 Prozent entspricht.  Das spiegelt sich auch darin wieder, dass nicht nur Mirella Reaction-Videos dreht. Auch zahlreiche andere Youtuber:innen sind damit erfolgreich, dass sie auf Trash-TV-Formate reagieren und Teilnehmer:innen interviewen, beispielsweise die Accounts Annikazion, Sanijel Jakimovski, La Polcevita oder Ramon Wagner.

„Was früher am Gartenzaun geschah, wird in den Videos mitgeliefert“

Joachim Trebbe, Kommunikationswissenschaftler an der Freien Universität Berlin, erklärt, warum diese Reaction-Videos so gut funktionieren. Laut ihm liegt es daran, dass durch das Kommentieren der Formate für Zuschauer:innen ein gemeinsamer Erfahrungshorizont geschaffen wird. „Was früher am Gartenzaun geschah, wird in den Videos mitgeliefert”, sagt er. Man beobachtet zum Beispiel die eigenen Nachbar:innen bei etwas Peinlichem – und tauscht sich mit den eigenen Mitbewohner:innen darüber aus. Dieses Gefühl geben uns auch Reaction-Videos: „Gewissermaßen ein Bekannter bewertet das Gesehene und macht deutlich, was daran sensationell, ungewöhnlich oder lustig ist.” Auch Mirella sagt, dass die Zuschauer:innen an den Reaction-Videos vor allem das Gemeinschaftsgefühl lieben. „Unter meinen Videos kommentieren sie auch meine Reaktion auf die Formate – wobei sie mir nicht nur zustimmen, sondern auch widersprechen”, erklärt sie. „Das macht es für mich so spannend.”

Und es geht nicht nur um das gemeinsame Erleben – sondern auch um das gemeinsame Verarbeiten: Annika Gerhard, deren Kanal Annikazion fast 450 000 Menschen abonniert haben, kommentiert hauptsächlich die Dating-Formate „Love Island” und „Princess Charming”. „Es macht Spaß, zu analysieren, wie sich Menschen in Beziehungssituationen verhalten”, sagt die 23-Jährige. „Dabei gebe ich gerne Tipps, anstatt alles nur ironisch zu kommentieren.” Auch Sanijel Jakimovski, der mittlerweile fast 39 000 Abonnent:innen hat, reagiert auf seinem gleichnamigen Account am liebsten auf Dating-Shows – unter anderem, um Probleme aufzuzeigen. „In Dating-Formaten beobachte ich viel toxisches Verhalten”, erklärt der 32-Jährige. „Meistens erkennen das nicht mal die Teilnehmer:innen – und ich könnte mir vorstellen, dass junge Zuschauer:innen glauben, das Verhalten sei gesund, wenn sie sich mit niemandem über die Geschehnisse austauschen.” 

Laut Sanijel ist ein großes Problem von Trash-TV-Formaten, dass Slut-Shaming – also das Herabwerten von sexuell aktiven Frauen – sehr präsent ist. „Umso sinnvoller finde ich meine Arbeit, wenn ich kritisieren kann, dass diese Frauenbilder veraltet sind und nichts im Jahr 2021 zu suchen haben.” Auch Mirella findet es gerade aus feministischer Perspektive wichtig, Reality-TV zu kommentieren. Laut ihr lassen sich dadurch Stereotype, die lange Zeit nicht hinterfragt wurden, noch einmal aufzeigen und kritisieren. In einem Video zum Format „Are You The One” hat sie deswegen beispielsweise angesprochen, dass Frauen nicht nur als Accessoires von Männern dienen und das Recht dazu haben, ihre Grenzen aufzuzeigen. „Solche Formate haben teilweise ein Millionenpublikum, jedoch ist der Feminismus noch nicht in jeder Ecke angekommen. Daher möchte ich manche Geschehnisse einfach nicht so stehen lassen”, sagt sie. 

„Medienschaffende wie ich können das Geschehen einordnen und an passenden Stellen kritisieren und Grenzen ziehen“

Darüber, ob Zuschauer:innen durch die Reaction-Videos tatsächlich reflektierter mit dem Gesehenen umgehen, lässt sich laut Trebbe nur spekulieren. „Natürlich gibt es Accounts, die menschenverachtende Beiträge im Reality-TV kritisieren wollen”, sagt er. „Mein persönlicher Eindruck ist aber, dass durch Reaction-Videos vor allem versucht wird, sich an erfolgreich laufende, aber zum Teil auch norm-verletzende und unethische Formate dranzuhängen und davon zu profitieren.”  Sanijel sagt dazu, dass diese „norm-verletzenden und unethischen” Inhalte nun mal viele Menschen im deutschsprachigen Raum beschäftigen – für ihn ist es eine Win-Win-Win-Situation: „Zuschauer:innen bekommen zusätzlichen Content, Produzent:innen zusätzliche Werbung und ich freue mich, Menschen zu unterhalten und Denkanstöße in Richtung Selbstliebe und Feminismus zu geben”, erklärt er. 

Zumindest aus Sicht der Zuschauer:innen scheint das zu funktionieren: Unter den Videos der drei Youtuber:innen gibt es unzählige Kommentare, in denen sich ihre Follower:innen dafür bedanken, dass sie das problematische Verhalten der Menschen in den Sendungen ansprechen und kritisieren. Auch Mirella stellt fest, dass die Resonanz auf ihre Einordnungen sehr groß ist. „Ob die Zuschauenden ihr eigenes Verhalten und ihre Sichtweisen im Alltag durch meine Videos ändern, kann ich natürlich nicht einschätzen”, sagt sie. „Aber Medienschaffende wie ich können das Geschehen zumindest einordnen und an passenden Stellen kritisieren und Grenzen ziehen.”

Und nicht nur Zuschauer:innen, sondern auch Teilnehmer:innen der Formate sehen sich die Reaction-Videos an. Während Annika von diesen vor allem positives Feedback bekommen hat, war das bei Mirella nicht immer der Fall: Von Männern, die sie in Videos kritisiert, wurde sie schon im Privatchat auf Instagram beleidigt oder in Videos und Interviews als Männerhasserin bezeichnet. „Ich hingegen empfinde meine Kommentare als sehr respektvoll”, sagt sie dazu. „Wenn jemand nicht damit umgehen kann, dass ich eine Frau mit einer Meinung bin, dann ist das nicht mein Problem.” Auch Sanijels Videos wurden von mehreren Teilnehmer:innen kritisiert ­– er jedoch findet, dass diese sich selbst nicht zu ernst nehmen sollten: „Es ist wichtig, über sich selbst lachen zu können, wenn man sein Liebesleben als Realitystar in der Öffentlichkeit austrägt – denn Dating kann nun mal auch peinliche Situationen beinhalten.”

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