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Warum wir die Dating-Reality-Serie „Love Is Blind“ so lieben

Foto: Netflix

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Man muss das direkt am Anfang einmal klarstellen: Natürlich ist die neue US-Netflix-Realityserie „Love Is Blind“ (in Deutschland: Liebe macht blind) eine klassische Fernseh-Kuppelshow. Auch wenn sie das Gegenteil von sich behauptet. Die Prämisse: 30 Singles werden mehrere Tage lang in sogenannten „Pods“, also separaten Kabinen, zu einer Art Blind-Speed-Dating zusammengepfercht. Wenn zwei von ihnen sich auf Basis der Gespräche ineinander verknallen, müssen sie sich direkt verloben, erst dann dürfen sie sich sehen und müssen direkt zusammenziehen. Nach 30 Tagen gibt es dann im Idealfall eine Hochzeit, bei der dramatisch gefragt wird „Macht Liebe wirklich blind?“ und das Paar „Ja“ hauchen soll. Die Netflix-Kameras sind dabei stets dabei.

Dass bei dieser Sendung natürlich nicht nur die „inneren Werte“ zählen, merkt man spätestens daran:

  • Alle Teilnehmerinnen rennen die ganze Zeit bauchnabelfrei oder im tief dekolletierten Abendkleid rum, dabei kann ihr Date sie gar nicht sehen.
  • Es gibt ein gutaussehendes C-Promi-Moderator*innen-Paar (Nick und Vanessa Lachey, er war mal mit Popstar Jessica Simpson verheiratet), das eigentlich keiner braucht, das aber ab und zu etwas über blinde Liebe faselt und dann wieder abrauscht.
  • Die meisten Teilnehmer*innen sind von Beruf „Health-Coach“, „Fitness-Coach“ oder „Content-Creator“. Alle sind schlank, auf der Suche nach einer heterosexuellen Beziehung und ohne sichtbare Behinderung.
  • Wenn es in einer Beziehung kriselt, wird schnell ein Helikopterflug für ein „Date“ gebucht.

Der Weg zur potenziellen Trauung ist mit sehr viel Rotwein und noch mehr plüschigen Hunden gepflastert

Das gesagt, stellt sich die Frage: Warum sind die Menschen so wild auf diese Show? Warum war sie Ende Februar nach Angaben von Netflix das meistgesehene Format auf der Streaming-Plattform in den USA? Warum sorgte das Finale vergangenen Donnerstag für eine Meme-Explosion im Netz? Eine Sendung, die freundlich formuliert ein Mash-up aus „Herzblatt“ und sämtlichen Bachelor*ette-Formaten ist?

Natürlich hat das zum einen viel mit Voyeurismus zu tun. Beispiel: Eine Protagonistin, Jessica, wählt beim Blind-Date einen zehn Jahre jüngeren Mann, Mark, was irgendwie niemanden so richtig stört außer sie selbst. Der Weg zur potenziellen Trauung ist dann mit sehr viel Rotwein und noch mehr plüschigen Hunden gepflastert, die Kamera hält konsequent drauf. Das schaut man sich nur an, um sich am Leid fremder Menschen zu erfreuen.

Tatsächlich schafft „Love Is Blind“ es aber auch, Themen auf den Tisch zu bringen, die man von Reality-Dating-Formaten so nicht kennt. Da gibt es beispielsweise das Paar Cameron und Lauren. Cameron ist weiß, Lauren eine Woman of Color – was beide nach eigenen Angaben nicht ahnten, als sie sich beim Blind-Date ineinander verliebten. Lauren macht sich Sorgen, wie ihre Familie und die Black Community auf ihre Partnerwahl reagieren könnten, denn sie hat noch nie einen weißen Mann mit nach Hause gebracht. Cameron meistert daraufhin ein eher unangenehmes Treffen mit Laurens Vater. Für Laurens Offenheit und Camerons Umgang mit diesem Konflikt gab es im Netz viel Beifall – und ohne zu viel zu spoilern, kann man schon sagen, dass auf die potenzielle Hochzeit der beiden im Netz mit Abstand am meisten hingefiebert wurde.

Aber auch Schulden, Schwangerschaftsabbruch, Obdachlosigkeit, Orgasmusprobleme und Bisexualität werden bei „Love is blind“ thematisiert – wenn Letzteres auch derart vorurteilsgetrieben, dass der Hashtag #bisexualmenexist zwischenzeitig trendete. Das alles kann in dieser Drastik nur passieren, weil die Protagonist*innen zwischen erstem Date und Hochzeit nur kurz Zeit haben, einander kennenzulernen. Teilweise ist das ziemlich befremdlich, manchmal wünscht man sich auch sehnlichst, dass die Protagonist*innen von Netflix psychologisch betreut werden. Oft ist es aber auch erschreckend nah dran an den eigenen Fragen, die man sich zur Liebe stellt. Wie wichtig ist Sex für eine gute Beziehung? Miteinander kompatible Familien? Ähnliche Wertvorstellungen?

Natürlich können diese Fragen nicht abschließend durch ein Reality-Experiment mit überdurchschnittlich gutaussehenden Singles zwischen 25 und 35 beantwortet werden. Und natürlich passiert auch bei „Love Is Blind“ nicht alles so „zufällig“, wie es dargestellt wird. Die Familien der Protagonist*innen werden sich schon irgendwas gedacht haben, als ein Netflix-Kamera-Team ins Wohnzimmer walzte, bevor der Sohn eine große Ankündigung machte. Aber, und das kann man ruhig auch mal loben: Die Macher*innen sind Profis, haben vorher ein Format namens „Married at first sight“ gemacht. Und einen Cast zusammenzustellen, der sich derart naiv, lustvoll und abwechslungsreich auf die Suche nach dem Menschen fürs Leben macht, dass es sich oft sehr echt anfühlt, ist auch eine Leistung. 

Interessant ist das Gedankenspiel, ob so ein Format auch in Deutschland funktionieren würde. Eine Sendung, in der ein AfD-Wähler sich potenziell in eine praktizierende Muslima verlieben könnte, einfach weil man sich vorher in den „Pods“ so gut über die gemeinsame Herkunft aus Ostwestfalen austauschen konnte. Vermutlich würde da aber greifen, was bei so vielen aus den USA nach Deutschland importierten Reality-Shows das Problem ist: Trash-Fernsehen schauen ist hier völlig okay. Dort ernsthaft motiviert mitmachen? Eher nicht.  

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