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Die Youtube-Serie „Jugendland“ porträtiert Jugendliche aus der Provinz
„Welche Firma soll mich denn hier in Uetze nehmen?“, fragt Timo. Er sitzt auf einem verstaubten, grau-beigen Sessel, vor ihm eine Porzellanschale mit Obst. Ihm gegenüber, in einem ebenso grau-beigen Sofa, sitzt seine Oma. Sie sieht ihn besorgt an. „Und in der Stadt?“, fragt sie. Die Stadt, das ist Hannover – und Uetze ein Ort mit 7000 Einwohner*innen, 40 Kilometer nordöstlich von Hannover, ohne eigenen Bahnhof. „Wie lange soll man denn da morgens mit den Öffis fahren?“, entgegnet ihr Timo.
Timo ist ein Protagonist der Doku-Serie „Jugendland“ auf Youtube. Das Coming-of-Age-Format porträtiert drei Jugendliche, die dort geblieben sind, wo viele andere wegziehen – auf dem Land in Niedersachsen. Timo ist 19 Jahre alt, hat einen Hauptschulabschluss und hilft seiner Oma bei der Haus- und Gartenarbeit, für Taschengeld und Essen. Für einen Ausbildungsplatz in Uetze fehlt ihm der Führerschein – der wäre Einstellungsvorraussetzung. Sein Freund René, 20, ist in mehreren Heimen und Wohngruppen aufgewachsen – seine Mutter starb früh, zu seinem Vater hat er keinen Kontakt. Gegen ihn laufen mehrere Verfahren wegen Fahrens ohne Führerschein, Anstiftung zum Fahren ohne Führerschein und gefährlicher Körperverletzung. Und dann ist da noch Sarah, die mit 18 Jahren gerade ihren Hauptschulabschluss gemacht hat, nachdem sie mehrfach sitzen geblieben ist. Von ihrer drogenabhängigen Mutter hat sie sich früh gelöst, hält aber trotzdem den Kontakt, weil sie ihr noch eine Chance geben möchte. Weil es ihr schwerfällt, sich an Orte und Menschen zu binden, zieht sie häufig um und wechselt die Freundeskreise.
In Uetze, Eicklingen und Lachendorf gibt es wenig, das hip ist
Christoph Heymann (Regie, Produktion, Schnitt) und Jannis Keil (Kamera) haben Timo, René und Sarah 18 Monate lang, vom Sommer 2018 bis zum Frühjahr 2020, mit der Kamera begleitet. Die sechs- bis acht-minütigen Folgen der Produktionsfirma Heyfilm im Auftrag des NDR erscheinen jeden Dienstag und Donnerstag auf Youtube. In kurzen Ausschnitten dokumentiert die Serie, wie sich Erwachsenwerden in dieser ländlichen Region anfühlen kann. Den jungen Erwachsenen stellen sich die gleichen Fragen – über ihre berufliche Zukunft, Freundschaften und Lebensentwürfe – wie Großstädter*innen. Die Antworten darauf fallen jedoch in strukturschwachen, ländlichen Regionen oft anders aus.
Uetze, Eicklingen und Lachendorf, die Drehorte der Serie, sind zu klein, um richtige Städte zu sein und zu groß für das Rosamunde-Pilcher-Dorfleben. Die Gemeinden liegen nicht im Allgäu, wo das Leben auf dem Dorf mit Bildern von glücklichen Kühen und schneebedeckten Bergen romantisiert wird. Und auch nicht in Brandenburg, wo hippe Familien in noch hippere Eco-Häuser ziehen, weil das Leben in Berlin nicht mehr zu ihrem Family-Lifestyle passt. In Uetze, Eicklingen und Lachendorf gibt es wenig, das hip ist. Dabei leben mehr als 15 Prozent der Menschen in Deutschland in Gemeinden und Dörfern mit ähnlich wenigen Einwohner*innen. Auch junge Menschen, die in den wenigsten Filmen und Serien medial repräsentiert werden.
In „Jugendland“ erzählen die Geschichten der Protagonist*innen davon, wie sich bereits bestehende soziale Ungerechtigkeit in ländlichen Regionen weiter verschärft. Die schlechte Infrastruktur verringert etwa die Bildungschancen. Wer in die Schule oder zum Ausbildungsbetrieb möchte, braucht oft ein Auto, weil die öffentlichen Verkehrsmittel zu selten und unregelmäßig fahren. Timo erlebt genau das. Er findet keinen Ausbildungsplatz, weil er keinen Führerschein hat. Für den Führerschein fehlt ihm aber das Geld. Für ihn ist diese Situation ausweglos. Sarah erlebt ähnliches, als sie schwanger wird, nach einer Hebamme sucht und keine findet.
Das Leben auf dem Dorf nimmt nicht nur Chancen, sondern gibt auch Sicherheit
Die Kamera ist in der Serie kompromisslos nah dran und zeigt das Bild der scheinbar zurückgelassenen Dorfjugend. Eine Bushaltestelle, an der ein Plakat eine Ü30-Party bewirbt, die längst stattgefunden hat, die Frontalaufnahme einer geschlossenen Dorfgaststätte, ein verlassener Spielplatz mit kaputter Schaukel. Demgegenüber stehen die immer wiederkehrenden Szenen, die zeigen, wie Timo, Sarah und René auf einer Picknickdecke an der Kiesgrube abhängen. Sie rauchen, trinken Dosenbier und hören über eine Bluetooth-Box laut Deutschrap.
Die Jugendlichen passen nicht in die traditionelle Dorfstruktur. Sie stoßen sich an der dörflichen Überwachungskultur, daran, dass jede*r jede*n kennt und immer über alles Bescheid weiß. Sie würden gerne in Hannover feiern gehen, wo es Clubs und Bars gibt, doch am Ende fehlen die 20 Euro für die Bahn und der Mut, überhaupt aufzubrechen. Das Leben auf dem Dorf nimmt Timo, Renè und Sarah aber nicht nur Chancen, sondern gibt ihnen auch Sicherheit. Sie haben dort ein soziales Netz, auf das sie sich verlassen können. Als René keine Wohnung hat, nimmt ihn ein Freund, wie er sagt, selbstverständlich auf. Über einen Bekannten kommt er schließlich auch an einen Job bei einer Firma für Veranstaltungstechnik.
Auch wenn es in einigen Bildern so aussieht: „Jugendland“ ist kein düsteres Porträt vom Leben in der Provinz. Im Gegenteil, die Serie zeigt, dass sich die „Jugend auf dem Land“ nicht in klassische Opfer-Täter-Rollen zwängen lässt. Timo, René und Sarah treten als selbstbewusste Protagonist*innen auf und geben jungen Menschen in ländlichen Räumen eine Stimme. Die Serie findet dabei einen guten und realistischen Mittelweg zwischen romantisiertem Dorfleben und dem abwertenden Ausstellen der Menschen, die dort leben. Wenn es mehr solche klischeefreien Formate gäbe, die die junge ländliche Perspektive zeigen, würde sich womöglich tatsächlich mal etwas ändern. Wenn schon nicht an der Busverbindung, dann wenigstens an dem Bild, das Großstädter*innen von Menschen in der Provinz haben.