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Wenn nur die anderen Menschen im Museum nicht wären

Illustraion: Janina Schmidt

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Lebensaufgabe Sozialkompetenz! So wichtig wie Wasser und Brot, so kompliziert wie eine Operation am offenen Herzen. In der Serie "Hilfe, Menschen!" berichten wir ab sofort von unseren Sozialphobien. Heute: Wenn andere gucken, wie man was anguckt.

Es passierte im Museum Berggruen in Berlin. Ich war dabei, den kubistischen Körper zu betrachten, der von Picasso in allerlei Grautönen auf eine Liege gebettet worden war, als er kam. Er war sofort zu hören. Ein Schlurfen, ein Räuspern, wie es nur Rentner im Lebensendzeitstadium beherrschen, ein Seufzen. Er war offenkundig froh, es sturzfrei hierhin geschafft zu haben. Meine Seele verkrampfte sich.

Im Rahmenglas vom Picasso spiegelten sich der Raum und der Mann. Die eierschalenfarbene Jacke. Die graue Tonsur. Ich sah auch das Bild, vor dem er stand, ein fröhlicher Klee. Und dann trafen sich unsere Blicke. Blöder Zufall, Laune der Physik: Der Rentner spiegelte sich im Rahmenglas vom Klee. Das muss man sich mal vorstellen. Die Spiegelung einer Spiegelung! Er hatte große traurige Augen und starrte. Ich nahm Reißaus, eilte treppab und raus, auf die Schloßstraße. Meinen Schirm vergaß ich an der Garderobe. Aber die Verkrampfung ließ nach.

Der Vorfall liegt einige Jahre zurück, damals wusste ich ihn nicht sofort einzuordnen. Aber heute, durch Wiederholung in weiteren Ausstellungen und Galerien überprüft, weiß ich, was los war und noch ist: Ich leider unter einer sozialen Phobie, die es mir fast unmöglich macht, mit anderen Menschen im selben Museumsraum zu sein.

Eigentlich müsste man jetzt etwas sagen, über das Museum, die Künstler, wenigstens das Wetter

Dabei geht es nicht um Enge oder dass da wenig Luft zum Atmen bliebe, ich bin kein Klaustrophobiker, Fahrstuhl fahre ich zum Beispiel durchaus gerne. Es geht um die Peinlichkeit der Stille im Angesicht der Kunst. Um diesen Moment, den man teilt, obwohl man ihn nie teilen wollte und mit wem denn überhaupt? Man kennt sich ja nicht. Aber man erkennt sich, im Anderen, der sich ins gleiche Museum, den gleichen Raum, schlimmstenfalls sogar vor das gleiche Exponat geschleppt hat. Eigentlich müsste man jetzt grüßen. Etwas sagen. Über das Museum, die Künstler, den Tag, wenigstens über das Wetter da draußen, durch das man eben noch gelaufen ist, jeder für sich, aber irgendwie auch gemeinsam, meine Güte, was regnet das schon wieder! Aber später soll's noch schön werden! 

Ich schweige. Und dieses Schweigen dehnt sich aus wie Gas, bis es den Raum ausfüllt und da nicht mal mehr Platz ist für ein Räuspern. Zwei Fremde, die im gleichen Museumsraum schweigen – ich könnte mich dem anderen ebenso gut nackt auf den Schoß setzen. Die unangemessene Intimität wäre dieselbe.

Ich kenne Menschen, die gehen Kunst schauen, weil sie die Blicke der anderen genießen. Sie haben kein Problem damit, diese Momente zu teilen. Sie setzen sich mit Elan auf fremde Schöße. Museen und gesehen werden, darum geht es ihnen, jedenfalls auch. Ich aber muss jedes Mal mit mir ringen. Gehe ich oder gehe ich nicht? Halte ich das aus? Und die mich? Am liebsten würde ich die Museen mieten, nur für mich, jenseits der Öffnungszeiten, so wie das Brad Pitt und Leonardo DiCaprio tun. Leider fehlen mir dafür der Name, die Schönheit und das Geld. Folglich muss ich mir anderweitig behelfen. Museumsbesuche gleichen für mich mittlerweile anstrengenden Versteckspielen. 

 

Ich schleiche von Raum zu Raum auf der Suche nach ein bißchen Einsamkeit, die ich mit der Kunst teilen kann. Würde man mein Bewegungsprofil in einer Heatmap visualieren, ADHS-Kranke wären begeistert. Ich spähe um Ecken, wechsle spontan die Etagen, nehme bei den alten Meistern Tempo raus, nur um im nächsten Flur raketengleich zu beschleunigen. Manchmal muss ich das beste Bild einer Schau andrangsbedingt aussparen. Die Mona Lisa habe ich nie gesehen. Dafür kann ich mich rühmen, einige vergilbte Radierungen von wirklich zweifelhafter Qualität in den Keller-Etagen der Häuser studiert zu haben. Es war dunkel und einsam dort unten.

 

Ich kenne Menschen, die genießen das: Museen und gesehen werden, darum geht es ihnen

 

Besagte Unfähigkeit, lange vor einem Werk zu verweilen, schon gar nicht in Gesellschaft, machen mich leider zwangsläufig verdächtig. Schon nach kurzer Zeit sehe ich die Brauen der Wärter über ihre gefurchten Stirnen wandern, sie wickeln die Käsestullen wieder ein, nehmen mich in ihr schlechtgelauntes Visier und stehen zum ersten Mal seit Jahrzehnten von den Stühlen auf, die ihre ganze Welt bedeuten. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Als Wärter würde ich auch diesem Typen folgen, der geht, wenn jemand kommt, auf schmalen Schultern kein Gesicht, eher eine Fratze, ein Ausdruck des permanenten Ertapptwerdens. Neulich, in der Neuen Pinakothek in München, funkte ein Aufpasser via Walkie-Talkie ständig meinen Standort an die Kollegen. Ich kam mir vor wie Vincenzo Peruggia, der berühmte Kunstdieb, der eigentlich nur Anstreicher gewesen war. Aber am Ende ist das natürlich eine traurige Pointe: Ich fliehe vor der Beobachtung der anderen Besucher und werde deshalb erst recht beobachtet. 

 

Immerhin, im Internet habe ich entdeckt, dass manche Museen auch DVD-Führungen anbieten. Da ist dann der Rundgang durch die Sammlung sehr langsam gefilmt. Ich wollte mir gerade einen Film bestellen, als meine Freundin sagte: „Den können wir ja dann zusammen gucken.“

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