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Mensa-Tabletts überfordern mich

Illustration: Katharina Bitzl

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Lebensaufgabe Sozialkompetenz! So wichtig wie Wasser und Brot, so kompliziert wie eine Operation am offenen Herzen. In der Serie "Hilfe, Menschen!" berichten wir  von unseren Sozialphobien. Heute: mit wackeligem Tablett durch die Menschenmenge

Kaum ist man dem Kindergeburtstags- und Sportunterrichtsalter entwachsen und glaubt, nie wieder unter dem prüfenden Blick vieler Menschen entwürdigende Dinge tun zu müssen, steht man auch schon mit einem wackeligen, vollbeladenen Tablett im Selbstbedienungsrestaurant. Uni-Mensa, Bürokantine, Mahlzeit an Raststätten auf Reisen, Essen mit Freunden bei Vapiano beziehungsweise jedem anderen Selbstbedienungsrestaurant: Auch als erwachsener Mensch entkommt man dem Ausgestelltsein der eigenen Unsouveränität nicht. Und nirgends ist sie so offensichtlich wie im Selbstbedienungsrestaurant.

Das Entwürdigende am Selbstbedienungsrestaurant ist – alles. Man ist hungrig, ergo mental instabil. Man möchte diesen Zustand schnellstmöglich beseitigen und beschließt, Geld dafür auszugeben, ein hoffentlich passables Essen zu bekommen. Ist in Selbstbedienungsrestaurants – erster Dämpfer – selten der Fall.

Die Angst wirft einen seelisch sofort auf das Alter von sechs Jahren zurück

Außerdem – zweiter Dämpfer – muss man es sich auch noch selbst holen. Man muss selbst dafür anstehen, muss es selbst auf ein Tablett laden, muss selbst überfordert damit sein, wie gefährlich dieses Tablett wackelt und dass das Essen darauf bald schon kalt ist, wenn man sich nicht beeilt. Bereits beim Anheben des vollen Tabletts droht alles umzukippen und runterzufallen.

Diese Angst wirft einen seelisch sofort auf das Alter von sechs Jahren zurück. Ein Alter, in dem einem täglich durchschnittlich siebzehn Sachen runtergefallen, ausgelaufen und kaputtgegangen sind. Bevorzugt heiß ersehnte und paradiesisch verzuckerte Lebensmittel wie Eiswaffeln mit vier Kugeln Lieblingseis, für die es danach pädagogisch wertvoll keinen Ersatz gab, weil: „Selbst schuld, wenn du nicht besser auf dein Eis aufpassen kannst.“

Hungrig, weinerlich, wieder zur Sechsjährigen degradiert. Das alles macht das Prinzip SB-Restaurant schon in den ersten paar Minuten mit einem. Obwohl man doch nur hungrig ist, längst erwachsen und auch alles brav vom eigenen Geld bezahlt. Und der Hindernisparcours bis zum hoffentlich überhaupt vorhandenen Sitzplatz folgt erst noch.

Loslaufen also mit riskant beladenem Tablett. Ohne Helm und ohne Gurt. Panisches Einreihen ins anarchische SB-Verkehrschaos. Die Verkehrsteilnehmer: zu viele. Sehen von außen zwar genauso erwachsen aus wie man selbst, doch bei genauerem Hinsehen (Vorsicht, dass dabei das Tablett nicht runterfällt!) erkennt man sich in ihren Augen selbst: Sie alle sind jetzt hungrige sechsjährige Säugetiere. Weiche Knie, knurrende Mägen, und im Kopf die Stimmen ihrer Eltern auf Repeat: „Wenn du was erreichen willst im Leben, lass jetzt bloß das Tablett nicht fallen!“

Jetzt bloß nicht von den Blicken der bereits zufrieden sitzenden Esser irritieren lassen

Verkehrspolizei gibt’s keine im SB-Restaurant, es regiert der „Survival of the fittest“-Modus. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, höchstes Gebot ist, dass der eigene Parcours gelingt, das eigene Essen nicht kalt wird, nicht herunterfällt und dass schnellstmöglich ein idealer Platz gefunden wird, um endlich loszuessen.

Ich bin dafür nicht gemacht. Gericht aussuchen, Gericht draufladen, Getränk dazu, Besteck dazu, Servietten und wahlweise kleine Tütchen mit Salz und Pfeffer. Niemanden an- oder umstoßen. Schon bei der ersten Berührung meiner Fingerspitzen mit einem lauwarmen Plastiktablett stellen sich Gummigliedmaßen, hektische Atmung und pathologischer Stress ein. Augenflimmern, Versagensängste, Wahrnehmungsstörungen.

Die letzte Wegstrecke, von der Kasse zu einem geeigneten Sitzplatz, ist der Höhepunkt des SB-Unbehagens. Jetzt bloß nicht von den Blicken der bereits zufrieden sitzenden Esser irritieren lassen. Auch wenn ihr Glotzen wahrscheinlich nichts weiter bedeutet als: „Bin ich froh, dass ich mein Tablett nicht runtergeschmissen und einen Platz gefunden habe und endlich losessen kann“, projiziert man immer etwas anderes hinein. Und zwar sämtliche sozialen Ängste des eigenen Lebens auf einmal. Was man denkt, was sie jetzt denken, klingt so: „OH MEIN GOTT, wie hilflos, überfordert, weinerlich, unelegant und aufgeschmissen sieht das arme Kind dahinten denn aus! Na, die hat’s auch nicht leicht im Leben, upsi, jetzt fällt gleich das Tablett, na, oh. Ob das heut noch was wird. Oh nee, jetzt kommt sie näher, nee, hier nicht. Gehen Sie bitte woanders hin, hier nicht, hier ist schon besetzt. Da, außerdem Ketchupflecken auf der Sitzbank, weg da. Gehen Sie woanders essen, nicht hier. Zu eng.“

Hungrig ein vollbeladenes Tablett durch eine sitzende und essende Menschenmenge tragen, keinen Platz finden und sich dabei in all seiner Hilflosigkeit und Überforderung von anderen Menschen gleichsam mitleidig wie genüsslich beobachtet und beurteilt fühlen, ist noch schlimmer als träumen, dass man nackt in die Schule geht, sich überall im Schneidersitz hinsetzt und es viel zu spät merkt.

Am besten ist deshalb, man trinkt in Selbstbedienungsrestaurants nur einen Smoothie. Ein Getränk halten, zur Not einfach schnell im Gehen austrinken und wieder verschwinden, das kann jeder.

Um uns herum kämpfen alle denselben Kampf, gepeinigt von der Angst, dabei blöd und unfähig auszusehen, das Tablett fallen zu lassen und schließlich ohne alles dazustehen – ohne Essen, ohne Anerkennung, ohne Freunde. Und die, die schon sitzen und die uns in bei unserer noch währenden Suche mitleidig anschauen, die hassen wir. Für die erfinden wir neidische Vokabeln wie „saturiert“ und „selbstzufrieden“, als wär Angekommen- und in-Sicherheit-sein was Schlimmes.

PS: Und Smoothies sind doch keine Lösung. Denn wer will, nur aus Angst vor einem herunterkrachenden Tablett, das ganze Leben sicherheitshalber mit einem Smoothie bestritten haben?

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