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So überlebst du den Designer-Laden

Illustration: Federico Delfrati

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Nicht alles im Leben ist freiwillig. Die Survival-Kolumne ist Anlässen gewidmet, denen wir uns stellen müssen – ob wir wollen oder nicht. Ein Leitfaden zum Überleben. 

Drei Mal bist du schon an dem Laden vorbei gelaufen. Da hinten in der linken Ecke, die Sonnenbrille, die wie ein Austellungsstück auf einem leuchtenden, weißen Kubus liegt – sie sieht irgendwie so aus, als könnte sie dein Leben entscheidend verändern. Leider liegt sie aber nicht in einem anonymen Riesengeschäft mit 3000 anderen Kunden, sondern in einem dieser kleinen, feinen Duzi-Duzi-Designer-Läden mit ganz exquisitem Kram, sogenannten schönen Objekten, die so gar nicht „von der Stange“ kommen, obwohl die Klamotten dann doch an Stangen hängen. Aber halt nicht 30 verschiedene Pullover, sondern drei. Und alle sicher scheiße teuer.

Aber irgendwie ja auch toll, so ein leidenschaftlicher Einzelhändler im einsamen Kampf gegen Riesenketten und Amazon. Du gehst ein viertes Mal vorbei, der Mann hinter der Kasse, sicher auch Inhaber des Ladens, blickt hoffnungsvoll auf. Du fasst dir ein Herz und trittst ein. Ein kurzes „Hallo“, dann absolute Stille. Schlagartig fühlst du dich wie gefangen. Wie kommst du hier heil wieder raus?

„Kann man dir irgendwas helfen?“

Noch ehe du einen klaren Gedanken fassen kannst, ertönt in die Stille hinein der Satz, den du am meisten gefürchtet hast. „Kann man dir irgendwas helfen?“, fragt der Mann hinter der Kasse. Du gehst natürlich in die volle Defensive, zwei Schritte zurück, sagst, dass du „nur schaust“, was eigentlich überhaupt nicht stimmt, schließlich bist du ja wegen der Sonnenbrille da. Und verflucht, wie du jetzt bemerkst, steht dieser Kubus am hinteren Ende der Ladentheke, für dich so gut wie unerreichbar ohne Zutun des Inhabers.

Den Mann nun nachträglich darüber in Kenntnis zu setzen, dass du gerne die Sonnenbrille anprobieren würdest, wäre eindeutig zu gefährlich. Falls sie dir dann nicht gefällt, wird er dich sicherlich in ein hypermanipulatives Gespräch verwickeln, dir Bilder seiner Kinder zeigen, sie anrufen, dir den Hörer reichen, flehen werden sie, bitte, bitte, sei kein Unmensch, du hast die Brille doch anprobiert, komm' einmal im Leben deiner Pflicht nach, sowas. Mit dieser oder ähnlichen Methoden wird er versuchen, dich doch noch zum Kauf zu überreden, so verdienen diese Leute ihr Geld.

Im Zweifelsfall drohen sogar noch drastischere Mittel: Sollte die Mitleids-Tour nicht funktionieren, wird er höchstwahrscheinlich den Ausgang verbarrikadieren und dir sehr gemeine Schimpfe verpassen, wie damals der Schuldirektor, als du Paul das Pausenbrot geklaut hast. Am Ende wirst du unter Tränen bei deiner Bank einen Kredit aufnehmen müssen, um eine Sonnenbrille zu kaufen, die du nicht magst. Es wird ganz sicher genau so laufen!

Deswegen ist die einzige Überlebenstaktik: Wecke keinerlei Verdacht, dass du Interesse an der Sonnenbrille hast! Begebe dich an das diagonal gegenüberliegende Ende des Raumes und untersuche die drei Pullover, immer wieder, einen nach dem anderen. Deine ganze Hoffnung liegt nun darauf, dass ein zweiter Kunde den Laden betritt und du in einem unbeobachteten Moment doch dazu kommst, unauffällig die Sonnenbrille zu inspizieren. Das kann dauern, bring Geduld mit!

Wenn es dann soweit ist, solltest du bereit sein! Bei Ankunft des zweiten Kunden verschwindest du langsam aus dem Blickfeld des Inhabers, indem du dich auf alle Viere begibst und robbend der Ladentheke näherst. Bist du direkt unter ihr angekommen, heißt es abwarten, während du dem sicherlich etwas irritierten zweiten Kunden mit einem Zeigefinger auf deiner Lippe bedeutest, dich nicht zu verraten. Wenn nun der Inhaber hinter der Kasse hervorgetreten ist, greifst du zu! Jetzt muss alles ganz schnell gehen, du schnappst dir die Brille, setzt sie auf, überprüfst dein Gesicht im Spiegel gegenüber. Geschafft!

Vermutlich wird es mit dir und der Brille dann leider nichts, im Spiegel sieht sie nicht so aus, als könnte sie dein Leben entscheidend verändern. Lege sie unauffällig zurück und schreite im alten „Nur mal schauen“-Modus durch die Ladentür in die Freiheit. Vielleicht war der ganze Aufwand umsonst, vielleicht ist es der Inhaber ja absolut gewöhnt, dass nicht jeder, der seinen Laden betritt, auch etwas kauft. Vielleicht ist er auch gar nicht der Inhaber und ihm ist sowieso alles egal. Aber da du all das nie genau wissen kannst, hast du mal wieder absolut richtig gehandelt – und überlebt!

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