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„Das Opfer ist zur Wahrheit verpflichtet, der Beschuldigte eben nicht“

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Marion Zech ist Rechtsanwältin in Augsburg. In den vergangenen Jahrzehnten hat sie viele Frauen in Sexualstrafverfahren vertreten.

jetzt: Frau Zech, wie beginnt ein Fall für Sie?

Marion Zech: In der Regel ist die Anzeige bereits erstattet. Die Mandantin – es sind überwiegend Frauen – war schon bei der Polizei. Manchmal lassen sie sich auch vorher beraten, ob eine Anzeige überhaupt Sinn hat. Normalerweise kommen sie aber nach der Strafanzeige. Die Polizei klärt das Opfer über seine Rechte auf. Und darüber, dass man sich anwaltschaftlich beraten lassen kann.

Was tun Sie als erstes?

Ich gebe der Mandantin einen Überblick, was auf sie zukommt. Ich erkläre ihr, wo im Verfahren wir uns befinden. Wie lange sich das hinziehen wird. Was wir für juristische Möglichkeiten haben – sowohl im, als auch jenseits des Strafrechts. Was das alles kostet und wie sie finanzielle Hilfe bekommen kann. Meistens müssen die Opfer nichts bezahlen, weil der Opferanwalt auf Staatskosten läuft, sie Prozesskostenhilfe oder Unterstützung seitens der Opfer-Organisation "Weißer Ring" empfangen. Diesen Kontakt stelle ich grundsätzlich gerne her, da die Organisation eine Geschädigte in vielerlei Hinsicht unterstützen kann. 

Was musste bei der Polizei schon ausgesagt werden?

Es ist ganz wesentlich, dass das Tatgeschehen schon bei der Anzeige so detailliert wie möglich geschildert wird. Man hat oft diese eine Aussage des Opfers als einziges Beweismittel. Allein die Aussage „er hat mich vergewaltigt“ reicht nicht. Das kann schon sehr belastend sein.

Was passiert dann?

Der Beschuldigte wird mit der Anzeige konfrontiert. Er kann, muss aber nicht aussagen. Er ist, anders als das Opfer oder Zeugen, nicht an die Wahrheit gebunden. Als Beschuldigter darf man lügen, um sich nicht selbst zu belasten. Aus seiner Aussage können sich Nachfragen ergeben, weswegen das Opfer noch mal vernommen wird. Es können psychologische und medizinische Gutachten beantragt werden. Oft sind die medizinischen Gutachten aber schon erledigt. Spuren wie beispielsweise Sperma sind ja nur kurzfristig nachzuweisen. Wenn die Sachkundigkeit des Gerichtes zur Glaubhaftigkeitsbeurteilung nicht ausreicht, weil zum Beispiel eine psychische Krankheit bekannt ist, dann kann ein aussagepsychologisches oder psychiatrisches Gutachten erforderlich sein.

Wann kommt es zum Prozess?

Es werden so viele Informationen wie möglich ermittelt, alles rund um die Tat: Wie war das, wer war dabei, gibt es noch Zeugen? Die werden auch noch befragt, wie das vermeintliche Opfer und der Täter sich vor der Tat, nach der Tat verhalten haben. Gab es sichtbare Verletzungen oder seelische Erschütterungen? Wenn der wesentliche Sachverhalt ausermittelt ist, entscheidet die Staatsanwaltschaft, ob und wenn ja, welche Anklage erhoben wird. Oder ob das Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt wird.  

Ganz selten nur haben wir bei Sexualstraftaten objektive Beweise 

Wie oft kommt es zu einer Anklage?

In fast der Häfte der Fälle kommt es nicht zur Anklage. Oft aber, weil die Opfer selber keine weitere Verfolgung mehr wollen. Gerade bei Beziehungstaten kommt es relativ häufig vor, dass nach einer erfolgten Anzeige die Ehefrau oder Verlobte nichts mehr sagen will. 

Wie kommt es zu diesem Sinneswandel?

Manchmal kommen die Frauen dann zu mir und sagen: „Mei, er ist ja eigentlich ein ganz netter Kerl, aber wenn er getrunken hat… aber jetzt will er eine Therapie machen!“ Ein Trugschluss natürlich. Es gibt aber auch Fälle, bei denen erweisen sich die Beschuldigungen einfach als falsch. Solche erfundenen Geschichten werden aber meistens schon bei der ersten Aussage entlarvt. Nur sehr selten gesteht mir eine Mandantin: „Ich habe nicht die Wahrheit gesagt."

Und wenn es juristisch nicht reicht?

Das liegt es meistens an der Aussage, die nicht genau genug ist oder widersprüchlich oder unklar bleibt. Und deswegen die Anforderungen nicht erfüllt, um als Tatnachweis zu genügen. Ganz selten nur haben wir bei Sexualstraftaten objektive Beweise. In den meisten Fällen gibt es „nur“ die Aussage des Opfers. 

Also steht Aussage des Opfers gegen Aussage des Täters.

Das Opfer ist – wie bereits erwähnt – zur Wahrheit verpflichtet, der Beschuldigte eben nicht. Der Bundesgerichtshof sagt aber: Wenn man eine solche Konstellation hat, muss jede Aussage sehr genau geprüft werden. Immerhin geht deswegen eventuell jemand viele Jahre ins Gefängnis. Also gilt der alte Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten.  

Der Satz „der hat mich vergewaltigt“ ist einfach gesagt. Wir brauchen mehr Grundlage für einen Prozess 

Die Belastung für ein traumatisiertes Opfer ist enorm.

Natürlich. Zumal es im Regelfall nicht bei einer Aussage bleibt. Wenn kein Geständnis kommt, wird eine Aussage des Opfers in der Hauptverhandlung nicht vermeidbar sein. Diese Tat noch einmal im Detail schildern zu müssen, auch Dinge erzählen zu müssen, die für das Opfer selbst irrelevant sind, zum Beispiel welche Kleidung es trug – das alles ist nötig und soll auf keinen Fall eine Schuldzuweisung in Richtung des Opfers sein. Einen Rock hochzuschieben ist aber nun mal für einen Täter viel einfacher als eine enge Jeans auszuziehen. Sowas muss das Gericht wissen. Das ist sehr belastend. Aber es geht nicht anders. 

 

Warum nicht?

Wenn die Tat nicht detailreich genug geschildert wird, kann die Glaubhaftigkeit nicht ausreichend geprüft werden. Wenn man geringere Anforderungen an die Aussage stellen würde, wäre der Falschbelastung Tür und Tor geöffnet. Der Satz „der hat mich vergewaltigt“ ist einfach gesagt. Wir brauchen mehr Grundlage für einen Prozess.

 

Wie bereiten Sie eine Mandantin vor?

Ich versuche, ihr die Angst zu nehmen, indem ich erkläre, warum und wieso so genau nachgefragt wird. Und warum das in ihrem Sinn ist. Ich erkläre den Verlauf des Verfahrens, warum wer dabei ist, welche Möglichkeiten wir haben, den Opfern die Aussagesituation zu erleichtern. Zum Beispiel durch Ausschluss des Beschuldigten, der Öffentlichkeit oder gleich durch eine Vernehmung außerhalb des Sitzungssaals. Ich bin auf jeden Fall immer da, direkt neben ihnen. Und versuche zu vermitteln, dass sie der Allgemeinheit durch ihre Aussage einen ganz wichtigen Dienst erweisen. Dass sie eine ganz wichtige Person für Gericht und Staatsanwaltschaft sind. Und deswegen keine Angst haben müssen, wie in amerikanischen Filmen ins Kreuzverhör zu geraten. 

 

Kann ein traumatisiertes Opfer überhaupt so genau wiedergeben, was ihm widerfahren ist?

Das ist im Einzelfall mitunter sehr schwierig. Manchmal bleiben Schilderungen karg, obwohl sie tatsächlich erinnert werden. Dann kommt es zu keiner Verurteilung. Nicht, weil es nicht stimmt. Sondern weil es im Sinne einer Rechtsstaatlichkeit nicht reicht. Grundsätzlich aber kann man etwas, das man selber erlebt hat, deutlich farbiger schildern als etwas Ausgedachtes. Ich höre am Anfang immer in mich hinein: Fühlt sich die Aussage für mich plausibel an? Kann ich mir das wirklich so vorstellen? Aber ich kann mich natürlich auch täuschen.

Ich habe gewissermaßen eine rein positive Funktion. Wenn sie auch begrenzt ist. Manchmal kann ich nicht helfen 

Wie oft gehen Sie aus dem Gerichtssaal und denken: Der war schuldig, aber man kann es ihm einfach nicht nachweisen?

Aus dem Gerichtssaal eher selten. Die wackligen Geschichten werden meist schon vor dem Prozess eingestellt. Wenn es zur Anklage kommt, wurde der Fall mehrmals von allen Seiten geprüft. Wenn es dann doch zu einem Freispruch kommt, nachdem sich das Opfer all dem ausgesetzt hat, ist die Verzweiflung natürlich groß.

 

Wie belastend sind diese Fälle für Sie?

Man gewöhnt sich an die psychische und physische Gewalt. Man lernt, damit umzugehen. Irgendwann kommt nichts Neues mehr. Dennoch sehe ich viel Leid. Ich bin nah dran an Menschen, die nicht mehr ins Leben zurückfinden. So lange kann man gar nicht im Geschäft sein, dass man angesichts dessen nicht auch einen Schmerz mitleidet, der fast körperlich ist. Aber ich versuche, mir immer zu sagen: Die Tat ist passiert. Ich kann nichts mehr daran ändern. Ich kann nur dem Opfer helfen, den Prozess besser zu bewältigen und Recht zu bekommen. Ich habe gewissermaßen eine rein positive Funktion. Wenn sie auch begrenzt ist. Manchmal kann ich nicht helfen. 

 

Funktioniert unser System?

Ja. All das Unken, wie schrecklich vor Gericht alles wäre, ist einfach Quatsch. Im Großen und Ganzen funktioniert es sehr, sehr gut. Seit ich angefangen habe als junge Anwältin, hat sich sehr viel getan. Die Situation der Opfer ist viel besser. Juristisch, aber auch in den Köpfen von Gericht und Staatsanwaltschaft.

 

Was heißt das? Dass das System quasi „weiblicher“ geworden ist, weil mehr Frauen tätig sind?

Nein, das würde ich nicht sagen. Nach meiner Erfahrung haben besonders die Männer eine unheimliche Opferempathie. Es hat ein grundsätzliches Umdenken stattgefunden. Das Opfer wird nicht mehr als Prozessobjekt, als reines Beweismittel und damit Fremdkörper wahrgenommen. Das Opfer hat eine viel stärkere Lobby als noch vor 25 Jahren. Früher ging es nur darum, den Täter zu bestrafen. Heute geht es auch um Opferschutz.  

 

Was muss sich noch verbessern, um die Opfer zu entlasten?

Die Bestrebungen, das Sexualstrafrecht zu verschärfen oder zu vereinfachen, es für die Opfer also noch einfacher zu machen, sehe ich mit großer Skepsis. Obwohl ich Opfervertreterin bin. Die gesetzlichen Instrumentarien, um das Verfahren so schonend wie möglich für das Opfer zu gestalten, haben wir. Wie man sie umsetzt, ist eine andere Frage. Natürlich sind Freisprüche nach eingehenden Befragungen schwer zu ertragen. Aber eine weitere Vereinfachung bringt nur mehr Unsicherheit im Verfahren. Und die Gefahr sachlich falscher Urteile.

 

Wie hoch ist Ihrer Meinung nach die Dunkelziffer von nicht angezeigten Sexualstraftaten?

Es gibt eine hohe Dunkelziffer. Alleine schon, weil zu mir viele Opfer erst nach langer Zeit kommen und sich beraten lassen, und sicher die Wahrheit sagen. Und viele davon gehen diesen späten Schritt der Anzeige dann doch nicht. 

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