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Gegangen, um zu bleiben

Illustration: Katharina Bitzl

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Menschen, das sagen Psychologen gern, sind wie Stachelschweine. Sie wollen zusammenfinden, aber wenn sie einander zu nahe kommen, dann stechen sie sich. Und ihre Stacheln sind unterschiedlich lang. Die mit den längeren Stacheln können weniger gut mit Nähe umgehen als andere

Wäre Meike ein Stachelschwein, dann hätte sie vermutlich lange Stacheln. Längere zumindest als ihr Freund Sven. „Ich brauche mehr Freiraum als er“, sagt sie. Er würde das so zwar nicht unterschreiben wollen, aber er belässt es dabei.

Meike, 25, und Sven, 31, sind seit fünf Jahren ein Paar. Nach sechs Monaten sind sie in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Es hat sich so ergeben. Meike musste aus ihrer WG raus, Sven mochte seine nicht besonders, sie verstanden sich gut und dachten: Warum eigentlich nicht? Sie fanden eine Wohnung, 60 Quadratmeter, zwei Zimmer, Küche, Bad. „Es war nicht unsere Traumwohnung, aber die Lage war super“, sagt Meike. „Ich war zufrieden“, sagt Sven. Sie richteten sich ein, größere gemeinsame Anschaffungen wie ein neues Sofa machten sie aber nicht, zu teuer, sie studierten ja beide noch. Es war eher 
ein pragmatisches, weniger ein romantisches Zusammenziehen.

Zweieinhalb Jahre haben sie zusammengewohnt. Dann zog Meike wieder aus. Meikes und Svens gemeinsames Wohnen ist zerbrochen. Aber: ihre Beziehung nicht. Das ist das Ungewöhnliche an dieser Geschichte.

Ein Scheitern des Zusammenwohnens bedeutet meist auch ein Scheitern der Beziehung. Meike und Sven beweisen, dass das nicht sein muss. Und dass vielleicht mehr Paare den Mut haben sollten zu sagen: Ich will mit dir zusammen sein, aber nicht hier, auf 60 Quadratmetern, sondern im Kopf und im Herzen.

Das Modell, als Paar keine gemeinsame Wohnung zu teilen, ist nicht neu. Man nennt es „LAT“ („Living Apart Together“). Es geht dabei nicht um Paare, die durch äußere Umstände, also zum Beispiel durch den Studienplatz, zu unterschiedlichen Wohnorten gezwungen wurden, sondern um jene, die getrennte Wohnungen am selben Ort haben. Der Anteil an LAT-Paaren ist zwischen 1992 und 2006 um 70 Prozent gestiegen. Aktuelle Zahlen gibt es nicht. Dass ein Paar in getrennten Wohnungen lebt, nachdem es schon einmal zusammengewohnt hat, so wie Meike und Sven, ist allerdings selten. „Das sind höchstens zehn Prozent aller LAT-Paare“, sagt Professor Jens B. Asendorpf, Psychologe an der HU Berlin, der solche Beziehungsmodelle erforscht.

Obwohl der Anteil an LAT-Paaren steigt, hat das Zusammenziehen gesellschaftlich eine extrem große Bedeutung. Die meisten Beziehungen beginnen in getrennten Wohnungen, im Studentenalter leben 70 Prozent der Paare nicht zusammen. Weil die meisten aber doch irgendwann zusammenziehen, nimmt der Anteil der LAT-Paare mit steigendem Alter stetig ab – bis zum 
40. Lebensjahr, da pendelt er sich bei etwa sieben Prozent ein. Entscheidend ist dabei vor allem das Alter der Frauen: Mit 40 hat sich der Kinderwunsch meist erledigt. Wer bis dahin keine Kinder hat, dem fällt es leichter, getrennt 
zu leben.

Das Zusammenziehen wird romantisiert – deshalb wirkt Auseinanderziehen wie eine Scheidung

Wie wichtig die erste gemeinsame Wohnung immer noch ist, erkennt man daran, wie viel Aufhebens darum gemacht wird, wenn ein Paar zusammenzieht. Jeder hat etwas dazu zu sagen, zum richtigen Zeitpunkt, zur richtigen Aufteilung des Wohnraums. Frauen- und Lifestyle-Magazine veröffentlichen regelmäßig Tests wie „Sind Sie bereit fürs Zusammenziehen?“ oder Ratgeber wie „Zusammenziehen mit der Freundin: So kann es klappen“. Buchtitel versprechen „10 Grundregeln für das Leben zu zweit“. Bis Ende des vergangenen Jahres, ganze neun Jahre lang, lief auf RTL die 
Reality-Soap „Unsere erste gemeinsame Wohnung“, weil die Menschen nicht genug bekamen von Zusammenzieh-Geschichten. Zusammenziehen wird romantisiert und symbolisch aufgeladen. Weil Heiraten als Meilenstein einer Beziehung für viele heute eine geringere Rolle spielt, aber die Gesellschaft den ultimativen symbolischen Liebesbeweis scheinbar nicht aufgeben will, hat das Zusammenziehen die Hochzeit ersetzt. Mit der gemeinsamen Wohnung signalisieren die Partner einander und dem Umfeld: Wir meinen es 
ernst. So wie früher mit Jawort und Ringetausch.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

In dieser Gleichung wäre das Auseinanderziehen eine Art Scheidung. Eine öffentlich geschlossene Verbindung wird wieder aufgelöst. Da kann doch was nicht stimmen, denkt man.

Bei Meike und Sven stimmte auch etwas nicht. Sie hatten unterschiedliche Vorstellungen von Ordnung, Sven räumte Meike hinterher. Und Meike hatte das Gefühl, nicht mehr konzentriert lernen und arbeiten zu können. Sonst war sie immer zielstrebig und ehrgeizig, auf einmal wurde sie faul. Zumindest sah sie das so. „Das Problem war, dass ich nicht die Tür zumachen und meine Ruhe haben konnte“, sagt Meike. Sven hat versucht, eine Lösung zu finden, Meike mehr Freiraum zu geben. Er hielt sich im jeweils anderen Raum auf oder traf sich mit Freunden, wenn sie lernen musste. Doch dann zog in der WG einer Freundin die Mitbewohnerin aus, und Meike zog um. Raus aus der Paarwohnung, rein in die WG.

Das Problem lag im Zusammenwohnen, nicht in der Beziehung. Aber vor allem Sven hatte Angst, dass man das nicht voneinander trennen kann. „Ich habe das als Schritt weg von mir und weg von der Beziehung empfunden“, sagt er. Dieser Punkt der Geschichte ist auch der einzige, an dem die Versionen der beiden auseinanderklaffen.

Meike: „Wir haben immer wieder darüber gesprochen, auch darüber, dass ich ausziehen könnte. Und als dann dieses WG-Zimmer frei wurde, war das eine günstige Gelegenheit.“

Sven: „Es stand als Idee im Raum, und dann hieß es plötzlich: ‚Ich mach das.‘ Ich wurde vor vollendete Tatsachen gestellt.“

Meike: „Ich dachte, wenn man mehr räumliche Trennung hat, dann verbringt man weniger, aber wertvollere Zeit zusammen.“

Sven: „Ich habe erwartet, dass man sich durch die räumliche Trennung auch emotional distanziert.“

Meike ist in ihrer Beziehung die Person mit den sogenannten agentischen Motiven. Das sind Motive, die auf das Alleinsein zielen, zum Beispiel „Ich möchte auch mal Zeit 
für mich“ oder „Ich fühle mich eingeengt“. Je stärker diese Motive sind, das zeigen Untersuchungen, desto unzufriedener ist das Paar, selbst wenn nur ein Partner sie hat. Bei LAT-Paaren gibt es diese Verbindung zwischen agentischen Motiven und Beziehungsunzufriedenheit nicht, sie sind in der Lage, das Alleinsein-Bedürfnis zu regulieren. Das Problem ist: Wenn man das Bedürfnis erst entdeckt, wenn man schon zusammenlebt, kann die Beziehung daran zerbrechen. Weil es sich so anfühlt, als passe man nicht zusammen.

Aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen - das Ende einer Beziehung?

 

Der Vergleich von Paaren, die eine Wohnung teilen, mit LAT-Paaren ergibt zwar, dass Erstere stabiler sind: Eine Trennung ist bei ihnen weniger wahrscheinlich, weil der Aufbau einer sicheren Bindung in getrennten Wohnungen schwieriger ist oder länger dauert. LAT-Paare haben dadurch oft ein geringeres „Commitment“ als zusammenlebende Paare. Das „Commitment“, das angibt, wie fest die Bindung zwischen zwei Menschen ist, haben Asendorpf und sein Team über Fragebögen ermittelt. Wer nicht mit seinem Partner zusammenlebt, sagt zum Beispiel weniger oft, dass er oder sie „der Partner fürs Leben“ ist. Trotzdem gibt es auch LAT-Beziehungen, 
in denen das gesagt wird. Und vergleicht 
man nur diese mit Paaren, die das Gleiche von sich behaupten, aber eine gemeinsame Wohnung haben, gibt es keinen Unterschied mehr: Sie alle sind etwa gleich zufrieden in ihrer Beziehung, und die Wahrscheinlichkeit einer Trennung ist gleich hoch beziehungsweise niedrig.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wissenschaftliche Untersuchungen in den USA ergaben, dass Paare, die zusammenleben, sich auch darum weniger schnell trennen, weil das gemeinsame Wohnen Trägheit in die Beziehung bringt. Es erscheint dann viel zu kompliziert, den Hausstand aufzuteilen, die Gewohnheiten aufzugeben, neu anzufangen. Und es hätte symbolische Bedeutung – wie eine Scheidung eben. Eine Entscheidung für das Auseinanderziehen käme für viele einer Entscheidung gegen die Beziehung gleich. Im schlimmsten Fall leben also zwei zusammen und gehen sich auf die Nerven. Dabei könnte die Lösung sein: sich nicht zu trennen, sondern nur den Wohnraum. Den Mut haben, wieder auseinanderzuziehen, ohne all die Symbolik. Distanz erzwingen und so vielleicht neue Nähe finden. Wer sich sicher ist, den richtigen Partner gefunden zu haben, aber gern Zeit und Raum für sich hat, muss diese Sicherheit nicht zwingend mit einer gemeinsamen Wohnung symbolisieren. Oder gefährden.

 

Eine gemeinsame Wohnung bringt Trägheit in die Beziehung

 

Meikes und Svens Glück war vermutlich ihr Pragmatismus. Sie haben dem Zusammenziehen nicht so viel Bedeutung beigemessen, es war keine „Hochzeit“ für sie. Und die Zeit hat gezeigt, dass das Auseinanderziehen Kleinigkeiten, aber nichts Grundlegendes verändert hat. Meike lernt wieder konzentrierter, seit sie in der WG wohnt. Und Sven, der in der alten Wohnung geblieben ist und jetzt 60 Quadratmeter ganz für sich hat, findet es entspannt, Herr über seine eigene Wohnung zu sein. Das, was sie jetzt alleine haben, gefällt ihnen gut. Die Zweisamkeit allerdings ist nicht intensiver geworden, wie Meike gehofft hatte. Aber auch die Distanz zwischen ihnen ist nicht gewachsen, wie Sven befürchtet hatte. „Sie pennt fast jede Nacht bei mir“, sagt er. „Sie hat ihre Klamotten hier, gerade sogar ihr Lernzeug – das ist ja der Witz!“

 

Meike wünscht sich auf jeden Fall, irgendwann noch mal mit ihrem Partner zusammenzuwohnen, vor allem wenn sie Familie hat. Angst, dass es nicht klappen könnte, hat sie nicht. Eher die Befürchtung, wieder träge zu werden. Und Sven denkt einfach nicht darüber nach: „Sie hat das Auseinanderziehen forciert, aber ich trage ihr das nicht nach.“

 

Bis auf Weiteres werden sie also getrennt wohnen, drei Fußminuten voneinander entfernt. Solange beide das wollen, ist das perfekt. „Letztlich geht 
es um Nähe-Distanz-Regulation“, sagt Professor Asendorpf. „Man muss die Nähe und die Distanz finden, die für beide angemessen ist. Wenn es da allerdings große Diskrepanzen gibt, ist das ein Problem. Es muss ähnlich sein. Wie in Partnerschaften vieles ähnlich sein sollte.“ Vor allem im Kopf und im Herzen. Aber nicht zwangsweise im Adressfeld auf dem Personalausweis.

 

Ilustrationen: Katharina Bitzl

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