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Die Kinder aus der zweiten Reihe

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Es ist kurz vor acht Uhr abends, als ich meinen Bruder anrufe. Ich habe mich lange nicht bei ihm gemeldet. „Oha, Clemens!“, sagt er mit einer Mischung aus Freude und Verwunderung. Ich frage ihn, was er gerade macht. „Jetzt müssen sie noch 15 raus holen“, sagt er ohne einleitende Erklärung. Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht. „Die sind verschüttet worden. 18 sind noch drin.“ Ach so. Er schaut Fernsehen. Es geht um die Rettung der Bergleute in Chile, kombiniere ich. „Jetzt ist das Dach wieder eingestürzt. Die sind wieder eingesperrt“, sagt er und lacht. Ich wundere mich kurz. Davon haben sie in den Radionachrichten vorhin gar nichts gesagt. Dann merke ich, dass er das wohl zu der Geschichte dazu erfunden hat.

Das macht er oft. Wenn er etwas erzählt, gehen Phantasie und Erlebtes nahtlos ineinander über. Konrad ist seit seiner Geburt geistig behindert. Immer wieder werde ich gefragt, was für eine Behinderung Konrad denn genau hat. Das Problem aber ist: Die meisten Behinderungen sind so individuell verschieden, wie die Menschen, zu denen sie gehören. Das Down-Syndrom, an das beinahe alle sofort denken, wenn sie „geistig behindert“ hören, ist eine Ausnahme. Für die Behinderung meines Bruders gibt es keinen Namen.  

Für Familien bedeuten Menschen mit Behinderungen oft eine lebenslange Aufgabe. Die behinderten Kinder lernen langsamer selbstständig zu sein und brauchen viel Pflege. Oft kommen zu der Behinderung gesundheitliche Probleme. Das bündelt Zeit und Aufmerksamkeit der Eltern. Zeit, die für die anderen Kinder vielleicht fehlt. Es hat lange gedauert, bis Sozialpädagogen bemerkten, dass auch die Geschwister Unterstützung brauchen. Eberhard Grünzinger vom Münchener VdK, zum Beispiel, hat zunächst Familien dazu beraten, welche Angebote es für die behinderten Kinder gibt. Erst nach einer Weile fiel dem Sozialpädagogen auf: „Die Brüder und Schwestern von behinderten Kindern haben viel zu wenig für sich gefordert.“ Da wurde ihm klar, dass sie Hilfe dabei brauchten, ihre Bedürfnisse nicht ständig zurück zu stellen. Deshalb hat er 1997 angefangen, in und um München Seminare für die Geschwisterkinder zu organisieren.

Meine Familie und ich haben durch Konrads Behinderung eine besondere Geschichte. Zum Beispiel war immer klar, dass er nicht alleine mit dem Zug fahren kann. Das war ein Problem, denn meine Eltern haben sich getrennt, da war ich zehn und Konrad sechs Jahre alt. Weil wir mit unserer Mutter von Süd- nach Norddeutschland gezogen sind, mussten wir eine lange Zugreise machen, wenn wir unseren Papa sehen wollten. Später wäre ich manchmal lieber mit Freunden verreist anstatt mit Konrad zu unserem Papa zu fahren. Das ging dann aber nicht, weil mein Bruder den Papa nicht allein besuchen konnte. Meine Eltern hatten Angst: Kommt er auf der Fahrt auf komische Ideen und steigt an irgendeiner Station einfach aus? Um das zu verhindern, musste ich eben mitfahren und aufpassen, dass nichts passiert.

Die Münchener Journalistin Ilse Achilles hat ein Buch über die Geschwister von behinderten Kindern geschrieben. Es heißt: „...und um mich kümmert sich keiner.“ So schlimm war es bei mir nicht. Aber ich musste häufig warten, bis Papa und Mama Zeit für mich hatten, denn Konrad brauchte mehr Pflege und Aufmerksamkeit. Im Rückblick würde ich sagen, dass diese Erfahrung auch eine gute Seite hat. Ich bin sehr geduldig geworden. Wo andere in einer Warteschlange beinahe wahnsinnig werden, bin ich die Seelenruhe selbst. Hauptsache, ich komme irgendwann an die Reihe. So bin ich das von zu Hause gewohnt. Leider erkennt unsere Gesellschaft diese Fähigkeit nur selten an. Denn meistens werden vor allem diejenigen wahrgenommen, die ungeduldig sind und am lautesten schreien.

Konrad ist inzwischen 24 Jahre alt und wohnt auf einem heilpädagogischen Bauernhof der Lebenshilfe. Meine Familie und ich sind entspannter geworden. Papa holt ihn jetzt häufig selbst ab und ich kann meine Urlaubsplanung so machen, wie ich möchte. Am Telefon erzählt mir mein Bruder zum Schluss, dass er mich mit meinem Papa im Januar besuchen will. Es klingt, als seien die Fahrkarten schon gekauft. Papa wiederum weiß davon noch nichts. Er lacht und sagt: „Da hat sich dein Bruder wieder einmal etwas ausgedacht.“ Konrad und seine Phantasie, denke ich und muss schmunzeln. Wenn die beiden dann trotzdem eines Tages vor meiner Tür stehen, werde ich mich freuen, ihn wiederzusehen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Protokoll von Magdalena Brunner, 21 

 

"Meine Schwester Maria ist fünf Jahre jünger als ich und sitzt wegen ihrer spastischen Lähmungen im Rollstuhl. Früher habe ich mich viel um sie gekümmert und ihr zum Beispiel beim An- und Ausziehen geholfen oder dabei, auf die Toilette zu gehen. Sie nimmt viel Platz in der Familie ein, dadurch habe ich früh gelernt, mich sozial zu verhalten. Ich habe mich dabei auch mal selbst vergessen und meine Bedürfnisse zurück gestellt. Deswegen ging es mir eine Zeit lang sehr schlecht. Inzwischen schreie ich laut, wenn ich etwas will. Das musste ich lernen.

 

Seit ich wegen des Studiums in München wohne, ist vieles besser geworden. Der Umzug von der Oberpfalz hierher war zwar eine schwierige Entscheidung für mich. Ich habe sehr gegen das Gefühl von Verpflichtung gekämpft und mich gefragt, ob ich meine Familie im Stich lasse. Aber Maria ist inzwischen auch in ein Internat gezogen, dadurch hat sich zu Hause vieles entspannt. Manchmal nervt mich, wie die Gesellschaft mit Behinderung umgeht. Als ich noch klein war, gab es schon manche Kinder, die gesagt haben: Du hast eine behinderte Schwester, mit dir spiele ich nicht.

 

Durch meine Familie habe ich viele Dinge gelernt, die andere Leute bis heute nicht hinkriegen, Selbstständigkeit zum Beispiel. Neulich wollte mich eine Bekannte besuchen und schaffte es nicht, selbst auf den U-Bahn-Netzplan zu schauen, um herauszufinden, wo sie umsteigen muss. Bei so etwas fasse ich mir dann an den Kopf. Ich habe gemerkt, dass ich gern mit behinderten Menschen und deren Umfeld zusammen bin. Dort ist es ganz egal, welche Klamotten man trägt. Es zählt nur, dass man da ist und das ist schön. Manchmal bin ich von den Behinderten aber auch genervt, doch das ist völlig normal. Genau wie alle Menschen können die auch doof sein.

 

Seit ein paar Monaten organisiere ich einen Stammtisch für erwachsene Geschwisterkinder in München, weil es für Geschwisterkinder in meinem Alter hier bis jetzt keine Angebote gab. Ich habe sogar schon Anrufe von Leuten bekommen, die über 40 waren und auch kommen wollten, das fand ich sehr bewegend."

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Protokoll von Jona Bauer, 18

 

"Ich habe mich nie vernachlässigt gefühlt, bloß weil mein Bruder das Down-Syndrom hat. Trotzdem habe ich sehr früh an den pädagogischen Angeboten für die Geschwister von behinderten Kindern teilgenommen. Dabei ging es aber vor allem um Erlebnispädagogik. Wir sind klettern und schwimmen gegangen und haben nicht im Sitzkreis gemeinsam geheult. Die Gespräche über die Familie kamen erst bei späteren Tagungen. Dort habe ich viele Leute getroffen, die sehr unter der Situation in ihrer Familie leiden. Das fand ich krass, weil ich das so nicht kannte.

 

Kommunikation ist Jaris große Stärke. Er hat keine Hemmungen und geht offen auf Fremde zu. Das kann auch ganz schön peinlich sein, wenn wir zusammen U-Bahn fahren und er jeden ansprechen muss. Ganz besonders reagiert er auf Leute, die Musikinstrumente dabei haben, denn die sind seine große Leidenschaft. Dann müssen die Leute die Instrumente auspacken und darauf spielen. Jari selbst spielt Melodica und Flöte. Das kann ziemlich nervig sein, zum Beispiel, wenn ich in Ruhe arbeiten will, Jari aber in seinem Zimmer nebenan Musik machen möchte. Für ihn mag sich das schön anhören, für mich ist das oft Folter.

 

Leute außerhalb der Familie hatten nie ein Problem mit der Behinderung meines Bruders. Ich habe festgestellt, wenn man locker damit umgeht, ist es auch für andere unproblematisch. Oft ist es sogar so, dass meine Freunde meinen Bruder sofort gern haben, wenn sie ihn kennen lernen. Nur trauen sie sich nicht, ihm auch Grenzen zu setzen. Zum Beispiel wollte er unbedingt meine Freundin anfassen. Da musste ich ihr erst sagen, dass sie dazu auch ruhig nein sagen kann und das nicht diskriminierend ist. Schwieriger ist es für mich manchmal mit meinen Eltern. Meine Mutter zum Beispiel ist von Jari gewohnt, dass er ständig Hilfe braucht. Dann denkt sie, ich bräuchte das auch. Ich kann mich aber um mich selbst kümmern und will nicht dauernd bemuttert werden."  

 

Einen Überblick über die Angebote für Geschwister von behinderten Kindern in München gibt es auf der Seite des Arbeitskreis Geschwisterkinder.

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