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Frauen, wie sollen wir uns verhalten, wenn wir nachts hinter euch gehen?

Foto: Sightkick / photocase

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Liebe Frauen,

vor ein paar Tagen bin ich in eine sehr seltsame Situation geraten, in der ich nicht wusste, wie ich mich richtig verhalten soll.

Nach einem langen Arbeitstag, auf dem Weg nach Hause, stieg ich aus der Tram aus. Müde und gelangweilt von den ewig gleichen Gesichtern (in der Tram), Kopfhörerstöpsel in den Ohren. Ich ging die Tramstation entlang zur nächsten Ampel und zündete mir eine Zigarette an, während ich dort auf Grün wartete. Es war kalt und nass, ein wenig Nebel waberte über die Straßen. Vier, fünf andere Fußgänger standen um mich rum.

Endlich grün. Ein paar Menschen gingen links, ein paar gingen rechts die Straße runter. Ich ging geradeaus. Genauso wie eine Frau, die in der Gruppe eben noch vor mir stand. Nach ein, zwei Minuten fiel mir auf, dass die Frau noch immer genau vor mir ging. Im relativ konstanten Abstand von fünf Metern, in der gleichen Geschwindigkeit wie ich. Langsam stieg in mir ein komisches Gefühl auf.

Es war dunkel, niemand war auf der Straße außer wir beide. Und ich, ein grantig schauender, rauchender Mann mit Mütze und hochgezogenem Jackenkragen ging, nein, schlich, einer Frau hinterher. So hätte man es zumindest als außenstehender Beobachter sehen können. Empfand die Frau vor mir das vielleicht genauso? Hatte sie mich überhaupt bemerkt? Und saß sie mir vorhin in der Tram nicht schon gegenüber? Oh Gott.

Ich zog an meiner Zigarette und dachte weiter nach. Könnte sie glauben, ich verfolge sie? Wie so ein Triebtäter aus irgendeinem Tatort? Ach, komm, ist doch albern! Wir leben hier in München, großes Dorf, viel Polizei, hohes Sicherheitsgefühl. Ist ja nicht Berlin oder Mexico City. Andererseits liest man ja schon immer wieder von Übergriffen, Überfällen, Vergewaltigungen. Nicht nur während irgendeines Bierfestes. An der nächsten Ecke musste ich nach links gehen. Ich war sicher: Sie wird garantiert nicht in die gleiche Richtung abbiegen. Wie unwahrscheinlich wäre das denn bitte? Die seltsame Situation würde sich schön von alleine auflösen. 

Dann bog sie links in die Straße ein. Fuck.

Sollte ich einfach stehen bleiben? Um den Abstand zwischen uns größer werden zu lassen? Oder schneller gehen und sie überholen? Wobei: Sie hätte dann meinen können, dass ich ihr hinterherlaufen und sie hinterrücks packen wollte. Ich überlegte, ob ich vielleicht einfach präventiv rufen sollte: „Entschuldigen Sie, ja, Sie da vorne! Mir ist die seltsame Situation hier auf der Straße völlig bewusst, wir zwei, alleine, es ist dunkel, aber ich versichere Ihnen: Ich führe nichts Böses im Schilde, seien Sie ganz unbesorgt!“

Über die Absurdität und Hirnrissigkeit des letzten Gedankens musste ich selbst grinsen – und dachte eine Sekunde später daran, was wäre, wenn sie sich genau jetzt umdrehen würde. Sie hätte einen Mann im Dunklen hinter sich hergehen sehen, der plötzlich aus dem Nichts heraus debil zu grinsen anfängt.

Keine gute Idee.

Sehr schnell entschied ich mich dafür, einfach stehen zu bleiben und auf mein Handy zu schauen. Auch wenn ich keinen wirklichen Grund hatte, das zu tun. Es vibrierte nicht, ich wollte auch niemandem schreiben. Absurd eigentlich, schließlich spielte ich hier Theater für mich alleine. Keiner da, der mich beobachtete. Ich gab mir gerade selbst ein Alibi zum Stehenbleiben, damit ich nicht mehr hinter einer fremden Frau gehen musste. Aber mei, solange die Frau vielleicht keine Angst mehr haben musste, dass sie verfolgt wird, war das ja okay! Alle Jungs übrigens, mit denen ich über dieses Thema in den Tagen danach gesprochen habe, kennen diese Situation. Und es gibt niemanden, der dafür eine gute Lösung hätte. Die meisten bevorzugen den Schau-aufs-Handy-und-bleib-stehen-Plan. Es fühlt sich so an, als würde da irgendwas nicht stimmen. Entweder mit uns oder mit der Gesellschaft, oder mit beidem.

Deshalb: Kennt ihr solche Situationen? Wie fühlt ihr euch, wenn ein Typ hinter euch herläuft? Und vor allem: Wie sollen wir uns verhalten, damit ihr kein mulmiges Gefühl bekommt?

Eure Jungs 

Die Antwort: 

Liebe Jungs,

eure Rezeptoren haben da schon ganz richtig reagiert, das IST eine unangenehme Situation. Schließlich hören wir die Schritte ja auch, schauen uns dann vielleicht sogar kurz um, sehen, da läuft seit Ewigkeiten der gleiche Typ hinter uns her. Noch dazu in einer Gegend, in der sonst nur wenige Menschen denselben Weg haben, und zu einer Zeit, zu der kaum noch jemand auf der Straße ist. Zufall?

Klar möchte frau diese Frage gern mit „ja“ beantworten. Dummerweise haben wir dafür aber zu viele Horrorfilme gesehen und zu viele Boulevard-Schlagzeilen gelesen. Und es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass die eine oder andere von uns wirklich schon mal auf dem Nachhauseweg dumm angequatscht oder sogar verfolgt wurde. Dass in so einer Situation das Kopfkino angeschmissen wird, habt ihr euch also sehr richtig gedacht. Und auch bei uns wird in diesem Moment eine leicht irrationale Gedankenspirale losgetreten:

Wenn wir jetzt schneller gehen, sehen wir aus wie die letzten Opfer. Gehen wir langsamer, laufen wir Gefahr, direkt neben dem Unbekannten zu landen. Wechseln wir die Straßenseite, sieht das auch nach Flucht aus.

Natürlich wissen wir, dass Horrorfantasien uns nicht weiterhelfen, dass mit 99,9-prozentiger Sicherheit kein Serienkiller hinter uns herläuft und dass wir im Ernstfall vielleicht sogar schlagkräftiger wären oder das Pfefferspray in unserer Tasche den Rest erledigen würde. Aber genau hier kommen wir zum doppelten Boden des Problems: Es ist eine Ich-denke-dass-du-denkst-dass-ich-denke-Situation.

Denn spätestens nach dem obligatorischen Schulterblick, der uns versichert, dass die zögerlichen Schritte da hinter uns von einem Typen stammen, der irgendwie krampfhaft versucht, nicht näher zu kommen und dann auch noch beiläufig auf seinem Handy rum tippt, wissen wir, dass hier ein riesiges Missverständnis vorliegt.  

Und damit fühlen wir uns genauso unwohl wie ihr. Denn wir wollen ja auch nicht, dass ihr diese Gedanken habt, genauso wenig, wie wir sie selbst haben wollen. Wir wollen nicht akzeptieren, dass die Gesellschaft dieses Stereotyp von „Frau im Dunkeln allein auf der Straße = Opfer“ immer wieder reproduziert und dass wir uns beide danach verhalten. Wir wollen unseren Aikido-Gürtel schwenken und rufen „Hey, kein Ding, ich würde dich eh platt machen.“ Das wäre vielleicht ein bisschen einschüchternd, aber effektiv.          

Jetzt also mal etwas lösungsorientierter:

Der Trick mit dem Handy ist schon mal nicht schlecht. Das verbraucht Zeit und vergrößert den Abstand. Zwar erinnert dieser Vorschlag ein bisschen an die „Eine Armlänge Abstand“-Idee der Kölner Bürgermeisterin Henriette Reker nach den Übergriffen in der Silvesternacht 2016, ist in dem Fall aber ernst zu nehmen. Wenn ihr das Gefühl habt, die Frau vor euch fühlt sich unwohl, lieber auf Nummer sicher gehen.

Meistens gibt es bei Straßen ja auch eine zweite Seite. Wenn ihr niemanden erschrecken wollt oder Angst vor der großen Beschleunigung habt, dann vielleicht einfach die Straßenseite wechseln und da überholen? Dann wäre die Situation sofort aufgelöst.  Zumindest ist das die simpelste Lösung, die uns gerade einfällt.

Am schönsten wäre es aber natürlich, wenn euch und uns solche Gedanken gar nicht erst kommen würden. Wenn wir irgendwann in einer Welt leben, in der sich niemand allein im Dunkeln unsicher fühlt und in der weder ihr noch wir darüber nachdenken. Bis dahin: Andere Auflockerungsversuche, wie vor sich hin zu pfeifen oder exzessives in den Taschen zu kramen, lieber unterlassen, das weckt höchstens Assoziationen zu „M. Eine Stadt sucht einen Mörder“, macht also alles nur noch schlimmer.

Bis zur nächsten Gruselsituation,

Eure Frauen

Dieser Text erschien erstmals am 23.2.2018 und wurde am 28.11.2020 aktualisiert.

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