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Was genau ist eigentlich ein Orgasmus?

bernjuer / photocase.de

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Dieser Text ist Teil der Kolumne "Dr. Vulva", die regelmäßig auf unserem Partnerblog kleinerdrei erscheint. Alle bisherigen Folgen findet ihr hier. Die Autorin macht im richtigen Leben irgendwas mit Wissenschaft und guckt so auch auf ihr Sex- und Beziehungsleben. Das sind für sie auch wichtige feministische Themen – echte, selbstbestimmte Sexualität und die Möglichkeit, offen darüber reden zu können.

Ich finde Orgasmen unglaublich faszinierend. Ich habe schon ein paar Mal angefangen zu überlegen, wie eine Studie über Orgasmen aufgebaut sein müsste, weil ich gerne mehr darüber wissen würde, wie andere das erleben und wie sich Menschen in ihrem Erleben unterscheiden. Bevor ich selbst welche hatte, ist mir der Eindruck vermittelt worden: Wenn sich die Welt schon nicht einig ist, was Sex genau ist, bei Orgasmen sei das relativ klar.

Ein Orgasmus:

  • - Ist ein krasses Gefühl, was man sonst nie hat
  • - Lässt dich alles andere vergessen
  • - Befriedigt dich
  • - Ist für Männer leichter zu erreichen als für Frauen
  • - Ist bei Männern mit Ejakulation verbunden, bei Frauen nicht
  • - Ist etwas, was manche Frauen mehrmals hintereinander haben können und Männer nur einmal
  •  

Oder nicht?

Nee. So verallgemeinert würde ich sagen: alles falsch. Ich zumindest wurde in meiner Erwartungshaltung sehr enttäuscht. Aber meistens auf die gute Art.

Alles fängt damit an, dass sich Orgasmen nicht immer gleichen. Manche sind körperlich heftig und lassen dich erschöpft zurück, andere sind schon wieder vorbei, bevor du überhaupt richtig in Stimmung gekommen bist. Bei manchen verkrampfe, bei anderen entspanne ich mich. Manche sind einzeln, andere gehen in Wellen ineinander über. Ich erinnere mich, gerade am Anfang, an Momente, als ich dachte: Wie, das war es jetzt schon? Oder daran, dass es manchmal schon fast unangenehm oder an der Schmerzgrenze war.  

Oft habe ich besonders schöne Orgasmen, wenn ich geistig gerade mit etwas anderem beschäftigt bin

Diese Unterschiedlichkeit hatte ich nicht erwartet, aber sie war interessant. Als Teenie habe ich sehr schnell festgestellt, dass ich quasi beliebig oft hintereinander kommen konnte und mich gefragt, ob das wirklich so ein seltenes Phänomen war. Inzwischen würde ich sagen, selten ist das überhaupt nicht.

Ich kann manchmal nach ein paar Orgasmen schön einschlafen und manchmal werde ich davon voll hibbelig bis aggressiv und fühle mich alles andere als zufrieden. Ich kann bei Bedarf sehr wohl die To-Do-Liste für den nächsten Tag planen oder sogar ein unverfängliches Telefonat führen, während ich mir einen runterhole – oft habe ich sogar besonders schöne Orgasmen, wenn ich geistig gerade mit etwas anderem beschäftigt bin.

Mal davon abgesehen, dass auch nicht alle Menschen Frau oder Mann sind, nicht alle Männer einen Penis haben und nicht alle Frauen eine Vulva – ich kenne mehr Männer, die mehrfach hintereinander kommen können, als solche, die nur einmal können. Und ich kenne genauso viele Männer, die es streckenweise nicht so leicht haben oder hatten, Orgasmen zu haben, wie Frauen.

Ich kann auch ohne Penis ejakulieren und das ist nicht das gleiche wie einen Orgasmus zu haben. Und obwohl bei Penissen Orgasmus und Ejakulation meistens zusammen gedacht wird, geben die Menschen mit Penissen auf Nachfrage doch fast immer zu, dass das eine nicht zwingend das andere bedeuten muss und sie das auch schon getrennt erlebt haben.

 

Das sind natürlich alles Einzelerfahrungen – wie gesagt, man müsste eine Studie machen. Aber es scheint mir schon sehr verdächtig, dass die Einzelerfahrungen so gar nicht zu dem passen, was immer noch an angeblichen Fakten über Orgasmen vermittelt wird.  

Warum soll es denn normal oder erstrebenswert sein, dass alle ausgerechnet bei der Penetration durch einen Penis kommen?

 

Zum Glück hat sich die Berichterstattung auch schon ein bisschen geändert. Dass auch Menschen mit Vulva ejakulieren, wird zum Beispiel jetzt häufig akzeptiert. Auch schön sind andere Formen, unterschiedliches Erleben von Orgasmen zu zeigen, im Beautiful Agony Projekt zum Beispiel (hier ist ein Sample davon).

 

Was mich richtig nervt: diese Erzählung, dass Menschen mit Vulva (hier wird meist von Frauen geredet, gemeint ist aber die körperliche Ausstattung und nicht die Geschlechtsidentität) “Schwierigkeiten haben, beim Sex zu kommen”. Daran ist so viel falsch. Mit Sex ist hier vaginale Penetration mit einem Penis (kurz PiV) gemeint. Schon diese Gleichsetzung finde ich höchst problematisch. Sonst reden wir doch auch von z.B. Oralsex, Analsex oder Telefonsex, ist das plötzlich kein Sex mehr? Was ist mit gleichgeschlechtlichem Sex? Und was ist mit allem anderen, was man noch so an sexuell interessanten Aktivitäten machen kann? Ich wette, wenn statt “Sex” hier zum Beispiel “Oralsex” oder “gemeinsam masturbieren” eingesetzt wird, stimmt das schon nicht mehr.

 

Außerdem: Warum soll es denn normal oder erstrebenswert sein, dass alle ausgerechnet bei PiV kommen? Denn das wird ja angedeutet, wenn von “Schwierigkeiten” gesprochen wird. Ich persönlich mag vaginale Penetration gerne, aber ich mag auch meine Orgasmen gerne schon vorher haben. Früher war das bei mir eine harte Bedingung: Solange ich keinen Orgasmus kriege, gibt’s auch keinen Penetrationssex.

 

Für mich ist die Erzählung, dass Frauen Schwierigkeiten mit Orgasmen beim Sex hätten, ein typisches Beispiel von einer Norm, die von Männern ausgeht und nach der dann Menschen ohne Penis als mangelhaft definiert werden. Völliger Blödsinn. Penis- und Vulva-Orgasmen lassen sich (im Allgemeinen) unterschiedlich leicht erreichen, je nachdem, was man so macht. Das ist alles, was sich hier meiner Meinung nach aussagen lässt. Die Bewertung kann weg. Und über einzelne Menschen sagt eine so allgemeine Feststellung sowieso nichts aus.

Es gibt übrigens auch Orgasmen, bei denen die Intimorgane gar nicht berührt werden, sondern z.B. die Brust oder andere empfindliche Stellen. Und nicht nur das: Auch bei Geburten (spontan oder mit Absicht), beim Sport, sogar ganz ohne Berührung oder sonstige körperliche Stimulation können Menschen kommen. Letzteres habe ich bisher auch wieder nur im Bezug auf “Frauen” gelesen, aber mir ist nicht einleuchtend, wieso das ausschließlich für Frauen gelten sollte – ein Gehirn haben schließlich alle.

 

Im Selbstversuch war ich schon nach 18 Minuten bei 25 Orgasmen. Und hatte dann keine Lust mehr.

 

Einmal, das ist schon ein paar Jahre her, habe ich in einer „Frauenzeitschrift“ gelesen, dass der Rekord bei 25 Orgasmen in der Stunde läge. Leider gab es dazu keine Quellenangabe, es würde mich ja schon interessieren, wie das jemand herausgefunden haben will.

Ich habe jedenfalls nicht geglaubt, dass 25 das Limit sein soll, mir kam das wenig vor. Es musste also überprüft werden. Ich war zu dem Zeitpunkt im Urlaub, zu Besuch in meiner früheren WG. Es war Sommer, sehr warm, und ganz lustige Stimmung. Nachdem mir aber keine/ keiner der Anwesenden sagen wollte, ob 25 jetzt viel oder wenig ist, habe ich im Gästezimmer einen Selbstversuch unternommen.

 

Die Versuchsanordnung bestand aus mir selbst, meinem Telefon als Stopuhr, einem Bleistift und meinem Tagebuch, in dem ich eine Strichliste geführt habe. Nach einer dreiviertel Stunde kam ich auf 24, hatte aber dann auch wirklich keine Lust mehr. Aber ich war mir sicher, dass 25 nicht das Limit sein kann.

 

In Vorbereitung für diesen Text habe ich den Versuch daher wiederholt. Diesmal mit dem gerade greifbaren Paracetamol-Beipackzettel, einem roten Filzstift und als besonderem Gast einem neuen Vibrator, später begleitet von Kegel balls.

 

Ich weiß nicht, ob es an der zusätzlichen Lebenserfahrung, der Tagesform, den Toys oder daran lag, dass es im eigenen Bett entspannter geht, aber diesmal war ich schon nach 18 Minuten bei 25 Orgasmen.

Und hatte dann wieder keine Lust mehr.

 

Streng genommen habe ich also immer noch nicht bewiesen, dass mehr als 25 Orgasmen in eine Stunde passen. Aber lustig war es trotzdem.

Wahrscheinlich werde ich es irgendwann noch einmal probieren. Möglicherweise mit einer netten Person als Unterstützung, die das Protokollieren übernehmen kann.

 

Falls jemand den Selbstversuch nachmachen möchte: Ich würde mich freuen, wenn ihr eure Ergebnisse mitteilen wollt, hier in den Kommentaren, oder noch besser direkt an mich bei Twitter.

 

Also, was ist jetzt ein Orgasmus?

 

Ein Orgasmus:

  • - Ist nicht wie der andere und kann sehr unterschiedlich sein
  • - Ist manchmal befriedigend und manchmal auch nicht
  • - Entsteht bei sehr unterschiedlichen Aktivitäten
  • - Ist mit Penis oder Vulva (im Allgemeinen) unterschiedlich leicht zu erreichen, je nachdem was man so macht
  • - Hat schon etwas mit Intimorganen zu tun, aber auch sehr viel mit dem Gehirn
  • - Ist manchmal mit Ejakulation verbunden, manchmal nicht
  • - Braucht manchmal längere und manchmal keine Pause vor dem nächsten

 

So gefällt mir die Liste deutlich besser.

 

Jedenfalls denke ich, dass wir über unsere eigenen Orgasmen und Orgasmen als allgemeines Phänomen noch mehr lernen können.

 

Dieser Text erschien zuerst auf kleinerdrei.org .

 

Das ist ein Gemeinschaftsblog, das 2013 von Anne Wizorek gegründet wurde. Zehn feste Autor_innen und sieben Kolumnist_innen schreiben hier regelmäßig über alles, was ihnen am Herzen liegt. Daher auch der Name kleinerdrei, der im Netzjargon für ein Herz steht: eben ein <3. Die Themen reichen dabei von Politik bis Popkultur und werden stets aus einer feministischen Perspektive betrachtet. Im Jahr 2014 wurde kleinerdrei in der Kategorie “Kultur und Unterhaltung” für den Grimme Online Award nominiert.  

 

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