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„Das Normale, an dem sich alles orientiert, gibt es in der Natur nicht”

Foto: Simone Hawlisch

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Leona Stahlmann (32) ist Journalistin und hat gerade ihren Debüt-Roman „Der Defekt“ veröffentlicht. Das Buch erzählt von der 16-jährigen Mina, die wohlbehütet in einem Dorf im Schwarzwald aufgewachsen ist. Sie merkt, dass sie anders liebt und begehrt als alle, die sie kennt. Mit dem etwas älteren Vetko entdeckt sie ihre Sexualität an der Grenze zwischen Lust und Schmerz. Leona Stahlmann schreibt vom Aufwachsen mit einer von der Norm abweichenden Sexualität und der befreienden Enge des Schwarzwaldes.

jetzt: Leona, gibt es zu wenige Bücher, die die verschiedenen Formen sexueller Identität verhandeln?

Leona Stahlmann: Ich habe das so empfunden. Arten von Liebe, die abseits des Normativen spielen, sind wenig behandelt, so, wie ich es gerne gelesen hätte. Literatur, die sich damit beschäftigt, ist oft durch den Versuch verzerrt, eine erotische Erfahrung daraus zu machen. Das geht von „De Sade“ bis „Fifty Shades of Grey“. Solche Bücher werden, damit sie verlässlich Erregung erzeugen, schnell sehr konkret und lassen wenig Spielraum für eigene Gedanken. Das engt sowohl als Leser*in als auch als Autor*in ein. Ich wollte nicht erotisch schreiben, sondern die Druckkammer beschreiben, in der man sich befindet, wenn man mit einer Sexualität aufwächst, die von einer Norm abweicht. 

Kennst du denn auch Bücher, die das auch schon gut machen? Ein Vorbild war für mich „Die Mitte der Welt“ von Andreas Steinhöfel. Das war meine erste literarische Erfahrung mit Homosexualität, obwohl die Sexualität nicht im Vordergrund steht. Die sadomasochistische Sexualität wird aber wirklich immer sensationslüstern ausgeschlachtet oder pornografisch aufgeladen. Ich wollte eine zarte Erzählung.

„Der Defekt“ wird in Interviews vielfach als BDSM-Roman bezeichnet. Der Begriff taucht im Buch nicht auf, wieso?

Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, diesen Begriff zu verwenden. Zum Einen, weil er nicht wirklich zur Sprache meines Buches passt und zum Anderen, weil ich ihn auch nicht sonderlich mag. Allgemein kann ich mit derartigen Schubladen wenig anfangen. So empfinde ich nicht, wenn ich über Sexualität schreibe. Ich schreibe über ein Gefühl. Das lässt sich weder in eine Schublade, noch eine Buchstabenkombination stecken. Außerdem bietet das Buch nicht nur an, es als BDSM-Roman zu lesen, sondern auch als Naturbeobachtung oder Gesellschaftskritik. 

Warum stoßen wir uns dann so schnell an dem, was außerhalb unserer eigenen Lebensrealität liegt?

Ich glaube, unsere Filterblasen werden immer kleiner und ausdifferenzierter und dadurch  stoßen wir uns so schnell an den Rändern. Weil kleine Abweichungen sofort auffallen und für Irritation sorgen. 

„Die Sexualität richtet sich nicht nach Regeln, die der Mensch von außen darüber stülpt“

Hast du dich deshalb dazu entschieden, „Der Defekt“ im Schwarzwald anzusiedeln, weil dort die Filterblase extrem klein und eng ist? 

Enge ist ein gutes Stichwort! Ich habe einen Ort gesucht, der so funktioniert, wie ein Solitär. Die Zeit ist in den fünfziger, sechziger Jahren stehen geblieben und weigert sich seitdem, weiterzulaufen. Der Wald verschluckt jegliche Modernisierungs-Versuche von außen. Davon kann man sich eingeengt fühlen – das ist die eine Seite, die ich beschreibe. Man kann sich eingeengt von der Sexualität fühlen, die einen unglaublichen Druck erzeugt, wenn man sie nicht ausleben kann oder will. Auf der anderen Seite kann einen dieser Wald aber auch schützen. Wie ein Wall aus Dunkelheit, der einen davor bewahrt, zu hell ausgeleuchtet zu werden und zu viel von sich preiszugeben.

Die Brennessel ist ein wiederkehrendes Bild deines Romans. Allgemein spielen Naturbeobachtungen eine zentrale Rolle. Was hat es damit auf sich?

Ich habe versucht, die Frage nach dem, was normal und was fremd ist, aufzulösen, indem ich in die Natur gegangen bin. Die Norm, das Normale, an dem sich alles orientiert, gibt es in der Natur nicht. Die Natur ist unglaublich formenreich. Und die Sexualität des Menschen gehört da auch dazu. Sie ist das, was uns am stärksten durchdringt. Sie richtet sich nicht nach Regeln, die der Mensch von außen darüber stülpt sondern nach Regeln, die die Natur vorgibt, was nicht viele sind.

„Sadomasochistische Vorlieben betreffen nicht nur Menschen ab Mitte 20“

Wieso heißt dein Roman dann „Der Defekt“? Greift der Titel nicht eben dieses Stigma auf, dass das, was Mina erlebt, „falsch“ ist? 

Man darf den Romantitel als eine Frage lesen. Darin steckt Minas Kampf mit genau diesem Gedanken, ob die Art, wie sie liebt, ein Defekt ist und ob es so etwas, wie einen Defekt überhaupt gibt. Die Antwort auf diese Frage darf jede*r sich selbst aus dem Roman erlesen – das Buch legt etwas anderes nahe, aber ohne eine konkrete Antwort vorzugeben. 

Die Protagonist*innen deines Romans sind sehr jung. Wieso?

Die Verknüpfung von Sexualität und Schmerz, so wie Mina sie im Roman erlebt, wurde, soweit ich weiß, noch nie aus Sicht junger Protagonist*innen erzählt. Diese Lücke wollte ich füllen. Sadomasochistische Vorlieben betreffen nicht nur Menschen ab Mitte 20, sondern können sehr früh auftreten. Man kann diese sexuelle Identität mit anderen vergleichen, die gesellschaftlich stigmatisiert werden: Homosexualität, Trans-Identität – die oft als Phase zur Seite geschoben werden. Vor allem im Teenanger-Alter kann es dann zu einer doppelten Drucksituation kommen. Man ist sehr instabil, was die eigene Identität angeht, vieles verändert sich, sowohl was den*die Jugendliche und seinen*ihren Status innerhalb der Gesellschaft angeht, als auch körperlich. Wenn man in so einer Zeit realisiert, dass die eigene Sexualität nicht „richtig“ ist, versucht man um die eigene Sexualität herumzuwachsen und sich nicht damit auseinanderzusetzen. 

„Das Erschaffen von Filterblasen ist ein wichtiger Schutzmechanismus“

Mina beschreibt ihr „Verlangen“ im Roman immer wieder als eine Grenzzone in der Wollen und Nichtwollen sehr nah beieinander liegen. 

Das was Mina mit Vetko im Sexuellen tut, umgibt sie auch im außen. Da spielt wieder der Schwarzwald eine wichtige Rolle. Da ist eine allumfassende Enge, die sie auf der einen Seite bedrängt, in der sie sich auf der anderen Seite aber auch aufgehoben fühlt. Auch Vetko bedrängt sie und doch fühlt sie sich, in dem, wie die beiden miteinander agieren, aufgehoben. 

Also ist Enge – in Beziehungen, im Schwarzwald oder in Filterblasen – nicht immer etwas Schlechtes?

Ich glaube das Erschaffen von Filterblasen ist ein wichtiger Schutzmechanismus, den wir uns auch erhalten müssen. Dort kann Schönes entstehen, weil diese Räume auch immer bestimmte Funktionen einnehmen – sie generieren Utopien, konservieren Vergangenes und reduzieren Komplexität. Wir können die Welt gar nicht in ihrer ganzen Allumfassenheit wahrnehmen, wir müssen uns auf Fragmente reduzieren. Sich für ein paar Stunden oder Tage dann nur auf diese Ausschnitte zu konzentrieren, kann für die Psyche unglaublich entlastend sein. Was wir gesamtgesellschaftlich aber lernen müssen, ist, erstmal zu realisieren, dass wir uns in einer bestimmten Filterblase befinden. Nur so können wir die Regeln, die darin gelten, reflektieren.

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