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„Brutalistische Bauten sind sehr fotogen“

Foto: Instagram/@antonelse

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Riesige Bauten, viel roher Beton, wuchtige Architektur: In der Bilddatenbank des Projekts „#SOSBrutalism – Rettet die Betonmonster“ findet man jede Menge Gebäude, die in den Fünfziger bis Siebziger Jahren gebaut wurden. Das Projekt, das sich dem Architekturstil des Brutalismus widmet, ist auf Instagram, Twitter, Facebook, Tumblr und Pinterest vertreten, in Kürze erscheint eine Publikation mit mehr als 660 Seiten und am 6. Oktober wird im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt (DAM) die dazugehörige Ausstellung eröffnet. 

Online und in den sozialen Medien ist der Brutalismus schon seit ein paar Jahren sehr beliebt. Es gibt hunderttausende Fotos auf Instagram, der Tumblr „Fuck Yeah Brutalism“ hat massenweise Fans, es gibt Brutalismus-Facebookgruppen und Listen mit den schönsten brutalistischen Bauten weltweit. Aber was fasziniert die Menschen so am Brutalismus? Warum wird er ausgerechnet in den 2010er Jahren wiederentdeckt? Und wieso wird jetzt trotzdem ein „SOS“ gesendet? Sind die Gebäude etwa in Gefahr? All diese Fragen kann Oliver Elser beantworten. Er ist Kurator des DAM und Leiter des Projekts #SOSBrutalism, das das Museum und die Wüstenrot-Stiftung gemeinsam mit dem Online-Magazin BauNetz im Herbst 2015 gestartet haben.

jetzt: Herr Elser, wieso gibt es ein Comeback des Brutalismus?

Oliver Elser: Was heute gebaut wird, ist vergleichsweise wenig radikal. Darum staunen die Menschen vor den brutalistischen Gebäuden darüber, was mal möglich war. Welchen Aufbruchsgeist es mal gab, was sich die Architekten mal getraut haben.

Auch viele junge Menschen verehren den Brutalismus. Die waren ja noch nicht mal geboren, als der in den Sechzigern und Siebzigern seinen Höhepunkt hatte…

Ja, und dadurch haben sie die Chance des zweiten Blicks, einer neuen Sicht auf diese Bauten. Hinzu kommt vielleicht eine gewisse Faszination und ein Interesse für „böse Ecken“, die es in unseren aufgeräumten Städten sonst so selten gibt.

Instagram ist voller Bilder von brutalistischen Gebäuden und der Tumblr „Fuck Yeah Brutalism“ ist schon seit ein paar Jahren extrem beliebt. Haben die Sozialen Medien dem Brutalismus zum Comeback verholfen?

Sie sind zumindest ein Beschleuniger. Brutalistische Bauten sind sehr fotogen, viele sind einfach ziemlich crazy und fordern unsere Sehgewohnheiten heraus. Hinter dem Trend steckt glaube ich auch eine Art Mad-Men-Nostalgie: Aus den Fünfzigern bis Siebzigern gibt es viele, qualitativ hochwertige Bilder der Bauten und davor stehen rauchende junge Männer in schmal geschnittenen schwarzen Anzügen, die man sofort mit heutigen ästhetischen Vorlieben zusammenbringen kann.

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In Kürze erscheint ein Katalog zum Projekt.

Ihr Projekt nennt sich „SOS Brutalismus – Rettet die Betonmonster“. Warum müssen sie gerettet werden?

Viele der Bauten sind jetzt in einem Alter, in dem man Geld in die Hand nehmen muss, um sie wieder fit zu kriegen. Sonst verwahrlosen sie. 

Und werden abgerissen?

Ja – dabei ist es immer günstiger, ein Gebäude zu ertüchtigen, als es abzureißen. Die Zeit, als der Brutalismus entstand, ist selbst brachial mit allem umgegangen, was vorher war: Damals hat man eine Prämie bekommen, wenn man den Stuck von Altbauten geschlagen hat. Die galten als nicht mehr zukunftsfähig. Gerade deshalb sollten wir jetzt nicht sagen: „Selbst Schuld, machen wir mit den Betonbauten genauso.“ Wir können es uns nicht leisten, einfach abzureißen, was uns nicht mehr gefällt, sondern müssen intelligentere Strategien finden, damit umzugehen. Und dafür tut erstmal Aufklärung Not.

Dann klären Sie uns auf: Wie definiert man Brutalismus überhaupt?

Brutalistische Bauten zeigen ihre Konstruktion unverhüllt und die verwendeten Materialen tauchen im Rohzustand auf, meistens roher Ziegel und roher Beton. Daher auch der Name: béton brut ist der französiche Ausdruck für Sichtbeton. Und die Gebäude sollen ein „starkes Gesamtbild“ hinterlassen – das ist allerdings die schwammigste Definition. Ich würde noch ergänzen, dass es einen Spagat zwischen Internationalem und Regionalem gibt: Es gibt diese Gebäude weltweit, aber jedes Land wollte dieser Architektur etwas Eigenes hinzufügen. Das macht den Brutalismus heute noch mal besonders interessant, weil ja gerade viel darüber nachgedacht wird, was „regional“ eigentlich noch bedeuten kann.

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Oliver Elser, Kurator des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt und Projektleiter von #SOSBrutalism

Foto: Kirsten Bucher

Wann genau ist der Brutalismus entstanden?

1953 hat ein britisches Architektenpaar ihn zum ersten Mal erwähnt und zwei Jahre später hat der Journalist und Architekturhistoriker Reyner Banham den ersten grundsätzlichen Text darüber verfasst. Ab Mitte der Sechziger gab es dann einen weltweiten Bauboom und viele staatliche Bauprogramme. In dieser Zeit sind extrem viele brutalistische Bauten entstanden. 

Wo gibt es besonders viele?

Es gibt verschiedene Hotspots, aus unterschiedlichen Gründen. Deutschland, weil es in den Sechzigern noch im Wiederaufbau war. Hier wurden sehr viele Kirchen, Universitäten und Rathäuser errichtet. Israel, wo die neue Architektengeneration sich von der Emigranten-Generation abgrenzen wollten. Das ehemalige Jugoslawien, vor allem Skopje, das 1963 von einem Erdbeben zerstört und mit viel Beton wiederaufgebaut wurde. Genauso Agadir in Marokko, wo es 1960 ein schweres Erdbeben gab. Australien, wo man zu dieser Zeit versucht hat, sich architektonisch von Großbritannien abzuheben. Etwas später kamen noch die Staaten der Sowjetunion dazu und Japan ist auch eine wichtige Region. Allerdings gibt es auch ein Land, in dem es so gut wie gar keinen Brutalismus gibt: China.

Warum?

Die Kulturrevolution ließ keinen Platz für künstlerische Architekturentwürfe. Denn letztlich sind die meisten brutalistischen Bauten, so spröde sie auf den ersten Blick daherkommen, am Ende doch heroische, künstlerische Statements. 

„Wir haben von Nordamerika bis Papua-Neuguinea 1000 Bauten in der Datenbank“

Sie haben brutalistische Universitäten, Rathäuser und Kirchen erwähnt. Was ist mit Wohnhäusern?

Im Wohnungsbau steckte in den Sechzigern und Siebzigern auch wahnsinnig viel Beton – aber er wurde da weniger zelebriert. Plattenbauten zum Beispiel, die von der Haltung her schon brutalistisch sind, haben den Beton häufig hinter Kacheln oder unter einer Farbschicht versteckt. Beim Brutalismus geht es eben immer um eine baukünstlerische Komponente. 

Warum hat das Image der Betonmonster zwischen der Anfangsphase und dem aktuellen Comeback eigentlich so gelitten?

Das ist eine gute Frage. Ich glaube, in manchen Gegenden der Welt hatte das damit zu tun, dass die großen staatlichen Bauprogrammen für eine sozialistische Idee standen, die dann mit dem Aufkommen des Neoliberalismus veraltet ist. Ab den Achtzigern galten die Bauten dann als Symbole des ehemaligen „Staatssozialismus“.

War auch die Architektur der Gebäude selbst Schuld am Image-Schaden?

Ja, denn es gibt in den Bauten oft furchtbare, unübersichtliche Tiefgaragen, dunkle Ecken, Angsträume. Bei dem unglaublichen Maßstabssprung, der durch die Ökonomie und die Bautechnik damals plötzlich möglich war, wurde leider häufig vergessen, den Menschen im Auge zu behalten.

Kann bei Ihrem Projekt eigentlich jeder mitmachen, der ein Smartphone hat und vor einem brutalistischen Gebäude steht?

Wenn er für ein Foto, das er postet, den Hashtag #sosbrutalism verwendet, läuft das bei unserer Seite im Social-Media-Feed ein. Und wir gucken uns jedes Bild an. Je nachdem, was es ist, bekommt der Bau dann auch einen eigenen Projekteintrag. 

Und dann wird das Foto vielleicht der Teil der Ausstellung?

Zumindest haben wir auf diesem Weg schon mehrere Fotografen gefunden, mit denen wir jetzt für die Ausstellung zusammenarbeiten. 

In der Datenbank sind Bilder aus aller Welt. Wie viele haben Sie selbst schon besucht?

Wir haben von Nordamerika bis Papua-Neuguinea 1000 Bauten in der Datenbank und 120 im Katalog. Das Reisebudget gibt es leider nicht her, das wir überall selbst hinfahren –  aber ich würde sagen, etwa fünf Prozent habe ich schon selbst gesehen.

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