Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Eine Hochzeit feiert man für die Gäste

Illustration: Katharina Bitzl

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Als ich am Morgen meiner Hochzeit in meinem Hotelbett aufwachte, war ich nicht glücklich. Wäre ich vor meiner Verlobten aufgewacht, ich wäre leise aufgestanden, hätte mich ans Fenster gestellt und von dort hätte ich mit verschränkten Armen zum Himmel über dem Bodensee geblickt, wo mir die aufziehenden Wolken als böse Omen erschienen wären. Vielleicht hätte ich ein paar heimliche Schlucke aus einer der Piccolo-Sektflaschen genommen, die uns von Freunden zugesandt worden waren. Mut und so.

Aber Tina war wach. Ich hatte kaum die Augen geöffnet, da schmiegte sie sich schon an mich und flüsterte „Wir heiraten heute“, als sei das die unglaublichste Sache der Welt. Ich lachte und sagte irgendwas Optimistisches. Aber die Wahrheit ist: Am Morgen des „schönsten Tags des Lebens“ wusste ich auf einmal nicht mehr, was ich mir je von einer Hochzeit versprochen hatte. 

Mein Problem, zumindest in diesem Moment, war weniger das Heiraten an sich und mehr die spezifische Art der Hochzeit, die uns bevorstand. Der Tag, dessen einzelne Programmschritte ich jetzt in Gedanken durchging, sah nämlich nicht wirklich so aus, als hätten wir ihn selbst geplant. Da warteten Sträußchen, Schnittchen und schwäbische Beamte auf uns: drei Dinge, die auf eine einsame Insel mitzunehmen uns nicht im Traum einfallen würde.

So viele Kompromisse waren wir in den letzten Wochen mit unseren Eltern, mit der Location, mit unserem Selbstbild als perfekte Gastgeber eingegangen, dass ich – der ich wenige Monate zuvor einen der klassischsten Anträge der Neuzeit geplant hatte – beinahe bereute, je vom „Heiraten“ angefangen zu haben. Ich hätte eine tantrische Seelenverschmelzung vorschlagen sollen oder selbst ein Ritual erfinden, bei dem wir uns nackt ausgezogen und mit französischem Kräuterlikör übergossen hätten. Unsere Verwandten hätten uns Glückwunschkarten geschickt und ansonsten einfach machen lassen. Indem ich aber auf das konventionelle Format der „Hochzeit“ bestanden hatte, fühlte sich alle Welt dazu berufen, ihre eigenen Vorstellungen einzubringen. Und uns blieb kaum etwas anderes übrig, als zumindest in einigen Dingen nachzugeben. Selbst schuld. 

Weiße Turnschuhe zum schwarzen Anzug? Eine fast schmerzhaft harmlose Revolte

Natürlich versuchten wir dennoch, eigene Akzente zu setzen. So trug ich zwar einen klassischen Anzug, meinte aber, meine neue Abneigung gegen Traditionen dadurch ausdrücken zu müssen, dass ich ihn mit weißen Turnschuhen kombinierte. Diese kleine Revolte war natürlich auch schon wieder traditionell und darum fast schmerzhaft harmlos. Aber wir wären die Tradition auch nicht losgeworden, wenn wir uns komplett gegen sie gesperrt hätten. Dann hätten wie sie stattdessen den gesamten Hochzeitstag zwischen Daumen und Zeigefinger gehalten wie eine fremde Socke, die wir in unseren Sachen gefunden habe: „Guckt mal, wie widerlich ist das denn? Damit wollen wir nichts zu tun haben!“ Wäre das souveräner gewesen? Vielleicht. Aber auch scheiße. 

Ein weiterer, halb trotziger Akzent: Wir schrieben der Standesbeamtin die Hochzeitsrede. Denn erstens glaubten wir nicht daran, dass jemand, der uns von zwei Telefonaten her kannte, ein auch nur halbwegs zutreffendes Bild unser Beziehung zeichnen könnte. Und zweitens war das ja unsere Liebe – wieso sollten wir jemand anderem das Erzählen überlassen?

Ich formulierte also einen Text und schickte ihn der gleichermaßen irritierten wie kooperativen Standesbeamtin, nur, um während der Zeremonie von einem schlechten Gewissen geplagt zu werden. Auf meinem in weißes Satin gehüllten Konferenzstuhl sitzend sah ich abwechselnd auf meine Schuhe hinunter, zur Standesbeamtin hinauf und zu Tina hin (die übrigens ein ganz und gar un-unschuldiges rotes Oberteil trug – das einziges Zugeständnis an die Befindlichkeiten der älteren Verwandten war, dass man nicht hindurchsehen konnte) und haderte mit mir, weil wir einerseits überhaupt so viele Kompromisse mit der Tradition gemacht hatten, dieselbe Tradition aber gleichzeitig durch unsere Bockigkeit beleidigten.

Wenn jedoch tatsächlich jemand beleidigt war, so zeigte er es nicht. Nach der Zeremonie weinte meine Mutter vor Glück, mein Schwiegervater nannte mich zwar nicht „Sohn“, sah mich aber – ein Foto beweist das – ein bisschen wie einen an, und Tinas 95-jährige Großmutter gab uns ihr Rezept für eine glückliche Ehe mit auf den Weg: „Nicht streiten.“ So einfach war das. 

Ich erinnere mich an absolutes Glück in den Gesichtern unserer Eltern

Wenn ich an den Tag zurückdenke, dann nimmt der Moment, als unsere Eltern uns gratulierten, fast genauso viel Raum ein wie die Zeremonie selbst. Nicht, weil ich für meine Eltern geheiratet hätte. Auch nicht, weil ich das Gefühl hatte, in eine neue Familie aufgenommen zu werden, obwohl das nicht ganz falsch ist. Was mich immer wieder an diese Szenen denken lässt, ist das absolute Glück, das ich in den Gesichtern unserer Eltern zu erkennen meinte. Für Tina und mich war das letztlich natürlich auch ein glücklicher Tag, aber eben auch einer voller Kompromisse, der obendrein den Übergang in eine neue, unbekannte Lebensphase symbolisierte. Für unsere Eltern – so zumindest sah ich das – gab es keine Grautöne. Alles, was rein und schön und gut war am Heiraten, schien sich in ihren nassen Augen zu spiegeln – ein natürlich unrealistischer, gleichzeitig aber sehr wohltuender Gegenentwurf zu den Gedanken, die mir meinen Morgen verdorben hatten. 

Was man vielleicht daraus lernen kann: Wer eine Hochzeit wie im Märchen haben will, der muss sie durch die Augen der Menschen sehen, für die er schon immer ein Prinz war (okay, klingt kitschig – aber Hochzeiten sind ja auch eine der letzten großen Kitsch-Bastionen des 21. Jahrhunderts).

Auf den Bildern vom Sektempfang stehe ich mit neu gemachten Verwandten herum, von denen ich die wenigsten beim Namen kenne, esse Schnittchen, trinke Sekt, erzähle wahrscheinlich von unseren Plänen für die Flitterwochen. Fast nie bin ich mit Tina zusammen auf einem Bild. Wir sind beschäftigt mit dem Herumreichen von Erfrischungen und dem Unterhalten der Gäste. Es ist eben mehr ihr Fest als unseres. Und das ist okay. 

Weitere Folgen von „Vik will“:

  • teilen
  • schließen