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„Wut ist für die Frauen wichtig“

Abbildung: Hanser Verlag; Bearbeitung: jetzt

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Die Autorin und stellvertretende Verlagsleiterin von Hanser Berlin, Lina Muzur, hat ein Buch mit fiktiven Geschichten über Sex herausgeben. Und über Macht, Scham, Wut, Liebe und alles, was dazugehört.  In "Sagte sie - 17 Erzählungen von Sex und Macht" geht es um Frauen, die von ihren Kollegen begrapscht werden genauso wie um Frauen, die ihren Chef verführen wollen. Zu den 17 deutschsprachigen Autorinnen zählen unter anderem Margarete Stokowski, Helene Hegemann und Jackie Thomae.

Uns hat Lina Muzur erzählt, wie Literatur helfen kann, gesellschaftliche Debatten wie #metoo besser zu verstehen und wieso sie sich die Freiheit herausgenommen hat, nur Autorinnen zu Wort kommen zu lassen.

jetzt: Wie kamst du auf die Idee zu diesem Buch?

Lina Muzur: Es gab zwei Ausgangsideen. Einerseits dachte ich schon länger darüber nach, eine Anthologie mit den interessantesten deutschsprachigen Autorinnen und Autoren der Gegenwart herauszugeben. Andererseits tauchte im Rahmen der #metoo-Debatte die Frage auf: Welchen Beitrag kann und sollte Literatur zu den wichtigen gesellschaftlichen Debatten unserer Zeit leisten? Wie aktuell kann Literatur sein?  Die Erzählungen sollen also in erster Linie einfach gute Literatur sein. Und dann ging es aber auch darum, ein Experiment zu wagen: Wenn man die 17 Erzählungen entlang dieses Themas liest, ergeben sie etwas Neues.

Hast du den Autorinnen Vorgaben gegeben, über was sie schreiben sollten?

Ich habe sie gebeten, über Sex und Macht zu schreiben, über Rollen- und Geschlechterklischees im weitesten Sinne. Ich wollte, dass jede Autorin die Geschichte erzählt, die sie erzählen will – und zwar genau in der Länge und Form, die diese Geschichte eben erfordert. Das war sehr riskant, weil ich eben nicht richtig beeinflussen konnte, was dabei herauskommen würde. Ich habe da nichts gelenkt und nicht versucht, die Arbeit der Autorinnen zu beeinflussen. Natürlich war ich erleichtert, als die ersten Erzählungen eintrudelten und ich feststellte, wie unglaublich groß die Bandbreite war: wie unterschiedlich die Perspektiven und Settings waren, die hier gewählt wurden. Und welche unterschiedlichen literarischen Stile die Autorinnen gewählt haben.

„Sex und Macht“ ist die Unterzeile des Buches, da denkt man schnell an Vergewaltigung. Dabei geht es auch sehr viel um Zwischentöne zwischen Mann und Frau.

Es geht sogar überwiegend um die Zwischentöne. Auch in den Erzählungen, die von Missbrauch und Vergewaltigung handeln. Und obwohl die Erzählungen sehr unterschiedlich sind, thematisch und stilistisch, gibt es doch viele Parallelen zwischen ihnen. Zum Beispiel finden sich immer wieder Scham und Mitleid: Die Frauen in den Erzählungen schämen sich für das, was ihnen passiert ist. Oft haben sie Mitleid mit den Männern, den Tätern. Und dann gibt es aber Erzählungen, die zeigen, wie früh es schon losgeht mit der Festschreibung von Geschlechterrollen. Es gibt mehrere Erzählungen, in denen die Protagonistinnen lange nicht wahrhaben wollen, dass ihnen Unrecht geschehen ist.

Und dann kommt irgendwann noch ein anderes Gefühl.

Ja, die Wut. Wut ist für die Frauen wichtig, denn erst nach der Wut kann man eigentlich anfangen, das zu verarbeiten, was passiert ist. Zum Beispiel im Text von Antonia Baum. Sie erzählt von einem relativ alltäglichen Vorfall, den vermutlich viele Frauen so ähnlich auch erlebt haben: Die Protagonistin hat einen Chef, der eigentlich nett ist. Und sie findet ihn auch attraktiv. Die beiden besuchen eine abendliche Business-Veranstaltung und irgendwann sitzen sie gemeinsam im Taxi, weil sie noch weiterziehen wollen. Der Chef fängt an, die Frau zu betatschen. Das Interessante ist, sie will das nicht, versucht aber irgendwie gut rauszukommen aus der Situation, aber vor allem will sie auch nicht, dass ihr Chef sich bloßgestellt fühlt. Sie lässt ihn also machen und versucht, höflich zu bleiben. Einmal schreit sie kurz auf, als er ihr zwei Finger in die Vagina steckt, und er denkt aber, dass das Geräusche der Lustempfindung sind und fühlt sich bestätigt. Und diese Ambivalenz, dieses krasse Missverständnis zwischen den Geschlechtern, das findet man in der Realität immer wieder. Aber nur Literatur kann das so besonders wiedergeben.

Es gibt auch Texte, in denen die Frauen übergriffig werden und Männer zum Sex überreden.

In einem Text erzählt eine Autorin, wie sie einen Mann mehr oder weniger gezwungen hat, mit ihr zu schlafen. Sie sagt dann: „Er hätte ja wirklich nicht mitmachen müssen.“ In einer anderen Erzählung geht es um eine gewisse Beate, die unbedingt mit ihrem Chef schlafen will. Und ihre Freundin, die sie sehr liebt, sagt: „Beate, es ist historisch gesehen ein ungünstiger Moment, mit seinem Chef schlafen zu wollen.“ Aber Beate hält eisern an ihrem Plan fest und das Ganze geht natürlich total schief. Es gibt in den Texten also die Chefs, die ihrer Angestellten an die Wäsche gehen.  Es gibt aber auch die Angestellte, die mit ihrem Chef schlafen will. Die Jungs, die sich herrisch gegenüber Mädchen verhalten. Mädchen, die einen Jungen belästigen. Eine Frau, die von ihrem 18 Jahre jüngeren Liebhaber verlassen wird. Insgesamt eine ziemlich große Palette dessen, was zwischen Frauen und Männern, Mädchen und Jungs so möglich ist.

Warum sollte man eine fiktive Geschichtensammlung lesen, wo das Thema doch medial wirklich breit aufgegriffen wurde?

Das ist jetzt keine großartige Erkenntnis, aber: Nur die Literatur kann unsere Wirklichkeit noch differenzierter und realistischer darstellen, als sie es tatsächlich ist. Die #metoo-Debatte hat bei mir sehr komplexe und sich teilweise widersprechende Gedanken ausgelöst. Ich hatte das Gefühl, mich unbedingt auf eine Seite stellen zu müssen. Gleichzeitig wusste ich nicht, wie ich mich positionieren sollte, weil ich das alles eben viel zu kompliziert fand:  Es geht hier um Sachen, die sich teilweise nicht so einfach einordnen lassen. Denn nicht nur Männer spielen ihre Rolle, auch Frauen tun das. Und dieses Anerkennen, dass die Dinge viel komplexer sind, als es vielleicht auf den ersten Blick scheint, ist mir wichtig. Man kann die Erzählungen als Leser auf sich wirken lassen und seine eigenen Schlüsse ziehen. Man muss nicht eine Position beziehen, man muss sich auf keine Seite stellen, man kann einfach darüber nachdenken, in Ruhe. 

Wie hast du die Autorinnen ausgewählt?

Die Mischung war mir sehr wichtig. Es sind Autorinnen dabei, die noch kein eigenes Buch veröffentlicht haben. Und es sind bekannte Autorinnen dabei, die schon sehr viel veröffentlicht haben. Das sollte ein schöner Nebeneffekt dieser Anthologie sein: Dass man Autorinnen für sich entdeckt und Lust bekommt, ihre Bücher zu lesen.

Fehlt der Fairness halber nicht die Sicht der Männer?

Nur Frauen erzählen zu lassen, das ist natürlich eine diskriminierende Entscheidung. Im Verlag wurde diese Entscheidung heftig diskutiert. Sicher wäre es nur gerecht gewesen, auch die andere Seite abzubilden. Vielleicht wäre das Buch dann noch vielschichtiger geworden. Aber gerade wegen der #metoo -Debatte habe ich mir das Recht herausgenommen, zu sagen: Ich diskriminiere und provoziere bewusst. Und die Provokation lautet: Jetzt, in diesem Moment, in dieser Anthologie, haben Frauen einfach mal den Vorrang und das erste Wort.

Anmerkung der Redaktion: An diesem Buch haben auch Autorinnen mitgewirkt, die für jetzt und sz.de schrieben oder schreiben. 

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