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Jungs, was sind eure Aussteigerfantasien?

Foto: Photocase Bearbeitung: jetzt

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Liebe Jungs, 

wir alle verlieren uns ab und zu in mehr oder weniger realistischen Zukunftsszenarien, in denen wir als Biolandwirt im Allgäu oder Starfotografin in New York das bedeutungsvolle Leben führen, das eigentlich für uns bestimmt ist. Die extremste „Was wäre wenn“-Vision hören wir aber nur von euch Jungs: aussteigen und ein Leben in maximaler Abgeschiedenheit führen.

In unserer Vorstellung sieht so ein Leben folgendermaßen aus: Ihr lasst alles hinter euch, sucht euch eine Hütte im Wald, möglichst in Kanada oder Alaska, tragt nur noch Holzfällerhemden und führt ein hartes, aber total befriedigendes Leben als Selbstversorger. Wenn ihr nicht gerade Holz hackt oder Kartoffeln erntet, geht ihr einem Hobby nach, für das ihr niemanden braucht außer euch selbst – schreiben, Gitarre spielen oder Sachen schnitzen zum Beispiel. Zwischenmenschlichen Kontakt habt ihr nur, wenn ihr ab und zu ins nächstgelegene Dorf fahrt, um eure handgeschnitzten Kunstwerke gegen das Nötigste einzutauschen.

So gar keine anderen Menschen sind doch auch keine Lösung

Wir haben die Vermutung, dass ein Mann eure Aussteigerfantasien besonders beflügelt hat: Christopher McCandless alias „Alexander Supertramp“, von dessen Aussteigerleben der Film „Into the Wild“ erzählt. Dabei sollte sein tragisches Ende, allein in einem verrosteten Schulbus irgendwo in Alaska, euch eigentlich eine Lehre sein. Und auch all die anderen „Into the Wild“-mäßigen Aussteiger und Einsiedler, auf die ich bei meiner Recherche für diese Frage gestoßen bin, haben eines gemeinsam: Sie sind Männer.

Dabei können wir uns auch sehr gut vorstellen, mal ganz alleine mit uns und der Natur zu sein – so für ein, zwei Wochen vielleicht. Manche von uns malen es sich sogar manchmal aus, ihr restliches Leben in idyllischer Abgeschiedenheit zu verbringen. Aber ganz allein? Ein gewisses Maß an Misanthropie können wir durchaus nachvollziehen, so gar keine anderen Menschen sind doch aber auch keine Lösung. Wir sind uns sicher, dass wir die selbstgewählte Einsamkeit schnell bereuen würden – und ihr auch. 

Seht ihr euch denn da wirklich ganz allein im Wald? Oder ist es auch euch lieber, wenn wir mitkommen, damit ihr euch nicht ganz so schlimm langweilt nach dem zehnten handgeschnitzten Grizzly oder ihr euch aus Versehen mit irgendeinem Kraut vergiftet? Und falls das alles Quatsch und der Männerüberschuss unter den Einsiedlern reiner Zufall ist: Wie sehen eure Aussteigerfantasien tatsächlich aus?

Erzählt mal, Jungs, wir warten am Lagerfeuer.

Eure Mädchen

Die Jungsantwort:

Liebe Mädchen,

ich träume mich zwar nicht in den hohen Norden zu irgendwelchen Grizzlys und schon gar nicht in die Kälte. Aber wenn ich mit einem großen, innerlichen „Fuck You“ an die Welt mein altes Leben innerlich hinter mir lasse, verstehe ich euren  Punkt. Denn bei mir ist der Sehnsuchtsort ein karibischer Strand mit tropischen Früchten und vor allen Dingen ganz viel Sonne. Aber die Prämisse bleibt die gleiche: Ich bin in diesen Träumen von der Welt ziemlich abgekapselt. Ab und an ein Boot, das ankommt, vielleicht mal ein gestrandeter Mensch, dem ich mit meiner unendlichen Expertise helfen kann, in seinen lächerlichen Alltagstrott zurückzufinden. Aber sonst: Ruhe. 

Nur ich und mein entspannter, tierischer Begleiter, der mir nicht von der Seite weicht. Vielleicht ein Hund, cooler wäre natürlich ein freundlicher Affe … Aber sonst ist da niemand. Sich selber ernähren, etwas mit den Händen schaffen, auf nichts und niemanden angewiesen sein. Harte Arbeit und dann ein entspanntes Bad im Meer. Ein Leben im Einklang mit der Natur. Kein Smartphone, keine Burger mit vier verschiedenen toten Tieren darauf, keine verspäteten S-Bahnen. Hört sich grundsätzlich doch gar nicht so verkehrt an. 

Uns wurde gesagt, dass diese grummeligen, durchtrainierten Einzelgänger das Idealbild eines Mannes sind

Warum wir uns das Leben eines Eremiten wünschen? Ich glaube, das liegt an unserer Sozialisation. An Generationen von Vätern, die nach dem Arbeiten nach Hause kamen und am Esstisch schweigend auf ihren Teller gestarrt haben. An der Glorifizierung von Cowboys, von Astronauten, von Urwaldforschern. Alles männliche Vorbilder unserer Kindheit, als die wir uns an Fasching verkleidet und die wir als „Berufswunsch“ in Freundesbücher geschrieben haben. Diese Idole vereint eines: Es waren Männer, die ganz auf sich alleine gestellt waren, im täglichen Kampf mit dem Universum.

Und auch unsere Lieblingsfilme haben uns gelehrt: Ihr werdet erst zur besten Version von euch selbst, wenn ihr alles hinter euch lasst und irgendwo in den hintersten Winkel der Erde zieht. In jedem Actionfilm, in dem die Welt kurz vor der Vernichtung steht, kann nur EIN MANN die Menschheit retten. Und zwar ein Mann um die Vierzig, der der Zivilisation seinen Rücken gekehrt hat und nun nur grimmig „Was willst du?!“ knurrt, wenn er zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder ein menschliches Gesicht sieht. Ein Mann, der in der Einsamkeit all die Fähigkeiten erlernt hat, die es nun braucht, um die Alien-Invasion/ die unheilbare Seuche/ die Zombie-Apokalypse/ die Russen zu stoppen. Uns wurde gesagt, dass diese grummeligen, durchtrainierten Einzelgänger das Idealbild eines Mannes sind. Ein Held, der die Welt im Alleingang retten kann. Wie traurig deren Leben eigentlich sein muss, darüber haben wir nie nachgedacht.

Ich würde keine vier Tage in der Wildnis überleben

Und so waren Misanthropie und Einsamkeit lange Zeit ein wichtiger Teil meiner Aussteigerfantasien. Mittlerweile sind solche Träume von der völligen Abgeschiedenheit deutlich seltener geworden. Vielleicht liegt es daran, dass mir die Schimpftiraden, die ich jedes Mal loslasse, wenn ich eine Kommode aufbaue oder eine Spülmaschine anschließe, schmerzhaft in den Verstand prügeln, dass ich keine vier Tage in der Wildnis überleben würde. Vielleicht liegt es daran, dass ich gecheckt habe, dass Cowboys nicht unbedingt cool waren. Oder daran, dass ich in ein Alter komme, wo die Familienplanung für mich eine Rolle spielt.

Vielleicht kommen diese Fantasien wieder, wenn ich jede Nacht 50 Mal von einem schreienden Baby geweckt werde. Vielleicht wünsche ich mich dann manchmal in einen Nahkampf mit einem blutrünstigen Grizzley, weil ich mir das irgendwie weniger schwierig vorstelle als dieses Baby in meinem Arm kurz zu trösten. Ich bin mir aber sicher, dass der kurze Gedankenausflug spätestens dann endet, wenn der winzige Mensch wieder friedlich in meinen Armen schlummert. Dann packe ich das Kleine ein und wir sitzen zusammen mit euch am Lagerfeuer.

Grummelige Grüße

Eure Jungs

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